Das Stimmenfestival wird 25 Jahre alt – eine gute Gelegenheit für einen Rückblick: In unserer Serie widmen wir jedem Stimmen-Jahrgang eine Seite. Die Folgen erscheinen bis zum Ende des diesjährigen Festivals in regelmäßigen Abständen. Heute fasst Helmut Bürgel das Jahr 2012 – sein letztes Jahr als Festivalleiter – zusammen.

Von Helmut Bürgel

Lörrach. Es gab in der Geschichte des Stimmenfestivals immer wieder diese vielzitierte „Schlacht mit dem Wasser“. Insbesondere der Rosenfelspark, das „Wohnzimmer des Festivals“ war (und ist) sehr regenabhängig.

Ich erinnere mich an ein Konzert im vollen Regen im Jahr 2006. Fast 500 Leute saßen unter ihren Regencapes und lauschten Mercan Dede und seiner Band aus Istanbul. Es war wie ein Wunder, was da geschah. Es wäre für jeden Mann und jeder Frau ein Leichtes gewesen, im strömenden Regen aufzustehen und zu gehen. Doch niemand kam auf diese Idee. Alle waren zu fasziniert von diesem türkischen Musiker und seiner tanzenden „Derwischin“ Tanya Evanson. Dieses Konzert war einer der „magischen Momente“ in der Stimmen-Geschichte.
Magischer Moment in der Stimmen-Geschichte

Der Regen verfolgte uns  vom ersten bis zu meinem letzten Festival – nicht immer, oder nur in den seltensten Fällen einen stimmungsmäßigen Einbruch hinterlassend. Glücklicherweise war das so! Und glücklicherweise sangen die Flying Pickets im Jahr 2005 auf dem Marktplatz im strömenden Regen „Purple Rain“, und alle sangen den Refrain mit – ein  unvergesslicher Chor.

Sturm rast auf den Marktplatz zu

Als Simply Red im Jahr 2003 auftreten sollte, erreichte mich eine halbe Stunde vor Konzertbeginn ein Anruf des Wetterdienstes auf dem Flughafen Basel, dass ein Sturm mit 120 Stundenkilometer und ein Unwetter auf den Marktplatz in Lörrach zu rase und dass ich die mit 5000 Besuchern ausverkaufte Veranstaltung sofort abbrechen solle. Leichter gesagt, als getan! Denn als ich von der Bühne eine Ansage machen und die Veranstaltung abbrechen wollte, wurde ich ausgepfiffen. Was tun?

Hinter der Bühne, am vereinbarten Ort, traf ich meinen Technischen Leiter,  Eckhard Wiederkehr, der seine Mitarbeiter bereits angewiesen hatte, die Bühnenplanen umgehend hochzubinden, damit der Wind durch die Bühne pfeifen konnte, ohne das Bühnendach abzuheben und die Besucher, Künstler  oder Techniker zu gefährden.

 Glücklicherweise bog das Unwetter gerade noch rechtzeitig vor dem Marktplatz ab, und Simply Red betrat noch im Regen die Bühne. Alle waren zufrieden, das Konzert fand in voller Länge und vor einem begeisterten Publikum statt – nur ich saß mit  Eckhard Wiederkehr fix und fertig hinter der Bühne und dachte: gerade nochmal gut gegangen! Was für ein Glück!
Solche Erlebnisse gäbe es noch viele zu berichten aus meiner 19-jährigen Stimmen-Geschichte. Regenschlachten en masse, nicht immer dramatisch, aber immer beunruhigend.

Selbst bei meinem allerletzten Konzert – der „Stella Orfeo“ im Theater Augusta Raurica regnete es. Ich musste die Aufführung am Sonntag, 5. August 2012, abbrechen und auf  den Dienstag verschieben. So schlecht war die Wettervorhersage, dass  mit einer Besserung bis zum nächsten Tag nicht zu rechnen war. Als Veranstalter möchte man einen solchen Abbruch und eine Verlegung immer vermeiden, nicht nur weil es ein ziemlicher Aufwand ist, die Tickets zurückzunehmen und neue auszugeben, auch dann, wenn es zum Schutz aller Beteiligten, der mitwirkenden Künstler, des Publikums und auch des Personals unvermeidlich ist.

Der neue Spieltermin muss kommuniziert werden, nachdem die Künstler ihre Verfügbarkeit bestätigt haben. In diesem Fall handelte es sich um eine mehr als 20-köpfige italienische Compagnie aus Tänzern, Sängern und Musikern; das Hotel musste verlängert werden, und es war kurze Zeit die Frage, ob das überhaupt geht, ganz abgesehen von den Kosten. Denn jede Verlegung ist für den Veranstalter mit Zusatzkosten verbunden.

Ich stand also an besagtem Tag hinter der Bühne, hoffend, der Regen würde aufhören. Aber es kam immer schlimmer. An einem Abbruch und der damit verbundenen Ungewissheit bezüglich all der offenen Fragen führte kein Weg mehr vorbei. Sollte so mein Abschied vom Festival aussehen?

Glücklicherweise war mir das Wetter zum Abschied am Ersatztag, dem 7. August, hold, und es war eine beglückende Vorstellung mit der Compania Aterballetto und den Basler Madrigalisten. Der Abend, als Hommage an den göttlichen Sänger Orpheus gedacht, der seine Geliebte Eurydike singend aus der Unterwelt befreien möchte, ging glücklich über die Bühne des römischen Amphitheaters in Augusta Raurica, und verband viele Fäden,  die im Laufe der Festivalgeschichte gesponnen wurden: Monteverdis „Orfeo“, die volksmusikalischen Wurzeln und die zeitgenössischen Stimmungen.

 Dieses Spiel zwischen den Regeln der Tradition und den Freiheitsbestrebungen der Moderne war immer präsent, ganz besonders an diesem letzten Abend im Jahr 2012. Das Bild vom singenden Menschen, der es mit seinem Gesang schafft, alle bösen Mächte zu bannen, war es auch. Insofern ist Orpheus unser wichtigster Wahlverwandter gewesen, und es wäre nichts passender gewesen für mein Ende der Stimmen-Geschichte.

Abschied als Leiter des Stimmen-Festivals

Es war übrigens ein doppelter Abschied – der von Mauro Bigonzetti als Leiter der italienischen Compagnie und meiner als Leiter des Stimmenfestivals. Und welch ein glücklicher Stern war uns beschieden?  Der „stella orfeo“, der Stern des Orpheus. Möge er noch lange strahlen. Trotz aller Regenschlachten.


Der Autor
Helmut Bürgel hat das Stimmenfestival gegründet. „Stimmen’ war Deine beste Idee“, sagte die damalige Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm  bei der Verabschiedung Bürgels im November 2012, bei der er auch zum Ehrenbürger der Stadt ernannt wurde. Bürgel war 1993 nach einem spannenden Bewerbungsverfahren Kulturreferent der Stadt Lörrach geworden. Ein Jahr später hatte er die Idee für das Festival, das 1995 mit zwölf Konzerten startete. Den Fachbereich Kultur leitete er bis Ende 2009, Burghof- und Festivalleitung übergab er 2012 an Markus Muffler, der bereits seit 2011 als gleichberechtigtem Geschäftsführer tätig war.