Lörrach „Rettung aus Seenot hat oberste Priorität“

Kristoff Meller

Interview: Domink Bartsch von den Vereinten Nationen kommt auf Einladung von Unicef nach Lörrach.

Lörrach - Mitte 2018 waren weltweit mehr als 68,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Dominik Bartsch ist der Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland. Am kommenden Montag spricht der 51-Jährige morgens mit Lörracher Campus-Oberstufenschülern, abends hält er einen Vortrag im „Tonart“. Kristoff Meller hat Bartsch im Vorfeld Fragen zur Flüchtlingshilfe, dem UN-Flüchtlingspakt und zum Thema Integration gestellt.

Herr Bartsch, Sie sind seit knapp einem Jahr der „Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland“. Was muss man sich unter diesem Amt vorstellen?

Wir sind in 128 Ländern aktiv, aber hier in Deutschland ist es anders als in anderen Staaten. Es gibt hier ja keine Flüchtlingscamps und wir müssen niemanden mit Unterkunft oder Nahrung versorgen. Aber Deutschland ist ein extrem wichtiges Land, weil es als einziges sowohl großer finanzieller Unterstützer unserer Arbeit als auch großes Aufnahmeland ist. Und Deutschlands Stimme hat Gewicht. Wir sind so etwas wie die Botschaft des UNHCR in Deutschland und bringen bei der Bundesregierung auch unsere Erfahrung aus 70 Jahren Arbeit auf allen Kontinenten ein.

Die globalen Flüchtlingszahlen sind im vergangenen Jahr wieder angestiegen. In Deutschland hingegen ist die Zahl der Asylanträge deutlich gesunken. Warum kommen weniger Flüchtlinge zu uns?

Sie haben Recht, dass Europa weit weniger Flüchtlinge aufgenommen hat als andere Teile der Erde. 85 Prozent der Flüchtlinge leben in Entwicklungsländern, die selbst zu den ärmsten Staaten der Welt gehören, etwa Bangladesch oder Uganda. Und die meisten sind im direkten Nachbarland, weil sie möglichst schnell in ihre Heimat zurückwollen. Es stimmt, es gibt eine Flüchtlingskrise. Aber nicht in Deutschland, Italien oder sonst wo in Europa. Die Krise ist in Libanon und Jordanien, im Sudan und in Kenia.

Wie berurteilen Sie die jüngsten Entwicklungen im Mittelmeerraum? Noch immer wählen viele Flüchtlinge den gefährlichen Weg über das Wasser und erst kürzlich ereigneten sich dort erneut zwei Schiffsunglücke mit rund 170 Toten. Indes werden Nichtregierungsorganisationen immer häufiger von Rettungsaktionen abgehalten. Wie ist hier die Position der UNHCR?

Wenn die Kritiker sagen, dass nicht jeder Mensch an Bord dieser Boote ein Flüchtling ist, haben sie vielleicht nicht Unrecht. Aber das findet man nun mal nicht auf hoher See, sondern erst in einem rechtsstaatlichen Verfahren heraus. Und selbst wenn es klar wäre, sollte man die Männer, Frauen und Kinder ertrinken lassen? Das kann doch nicht ernsthaft jemand fordern! Es geht bei den Operationen schlicht darum, Menschenleben zu retten. Wer bleiben darf und wer gehen muss, das entscheiden später die Behörden. Wenn der Notarzt zum Autounfall kommt, versucht er doch auch mit allen Mitteln, Leben zu retten. Und guckt nicht zu und fragt erst einmal „Kasse oder Privat?“. Deshalb hat für uns die Rettung aus Seenot oberste Priorität.

Im Dezember wurde der UN-Flüchtlingspakt beschlossen, der für eine ausgewogenere Verteilung der Last und Verantwortung zwischen allen Mitgliedsländern sorgen soll. Doch welchen Wert hat eine Vereinbarung, die rechtlich nicht bindend ist und was unterscheidet sie vom ebenfalls beschlossenen Migrationspakt?

Wir unterscheiden klar zwischen Migranten, die ihr Land mehr oder weniger freiwillig aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, und Flüchtlingen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen und schlicht keine Wahl haben, als Schutz in einem anderen Land zu suchen. Migration kann man also im gewissen Sinne steuern und genau das soll der Migrationsparkt tun und zugleich Schleuser bekämpfen. Der Flüchtlingspakt soll die Lasten besser verteilen. Es kann nicht sein, dass einige der ärmsten Länder Millionen Flüchtlinge aufnehmen und einige der reichsten einfach wegschauen. Ja, der Pakt ist unverbindlich. Aber er setzt ein Zeichen für Solidarität: Die Welt hat begriffen, dass Flucht und Vertreibung ein weltweites Problem ist, was man nur international lösen kann.

Kürzlich hat der Bundestag Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien als „sichere Herkunftsländer“ eingestuft. Wie bewerten Sie diese Entscheidung und die Lage in diesen Ländern?

Grundsätzlich hat UNHCR nichts dagegen, dass man so etwas wie sichere Herkunftsländer benennt. Das gilt aber nur, wenn die internationalen Standards hierfür eingehalten werden, wann ein Land als „sicher“ eingestuft werden kann. Dafür müssten nicht nur Verfolgung durch einen Staat zur Prüfung vorgesehen sein, sondern zum Beispiel auch Menschenrechtsverletzungen im nahen sozialen Umfeld oder durch nicht-staatliche Akteure wie Clans. Denken Sie an Genitalverstümmelungen durch die Dorfgemeinschaft oder gar die Familie.

Am Montag werden Sie sich mit Obertstufenschülern über das Thema Flüchtlingsschutz unterhalten. Normalerweise sollte der Staat die Sicherheit und Rechte seiner Bürger garantieren, für Flüchtlinge vor Verfolgung und Krieg wurde zudem die Genfer Flüchtlingskonvention geschaffen. Wie funktioniert dieser Flüchtlingsschutz und warum ist er auch in Deutschland notwendig?

Der Genfer Flüchtlingskonvention sind 147 Staaten beigetreten. Sie verpflichten sich, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren, wenn es deren Heimatland nicht kann – oder es nicht will, weil der Staat selbst der Täter ist. Ein Land darf einen Flüchtling nicht abweisen. Deshalb ist die Unterscheidung zwischen Flüchtling und Migrant so wichtig. Im Grunde ist Deutschland der Grund, warum es diese Konvention überhaupt gibt, wegen des kaum vorstellbaren Leides, das der Krieg gebracht hatte. Deutsche waren aber auch selbst oft Flüchtlinge, das letzte Mal ist nicht einmal 30 Jahre her. Deutschland hat also viele gute Gründe, sich zu beteiligen – moralische, historische und auch ganz egoistische: Jeder kann zum Flüchtling werden. Wohl kein Flüchtling hätte vorher gedacht, dass es ihn selbst mal treffen würde.

Am Abend werden Sie außerdem im Rahmen der Vortragsreihe „Cum Tempore“ zum Thema „Flüchtlinge in Deutschland“ referieren. Die deutsche Bevölkerung schwankt zwischen großer Hilfsbereitschaft und Sorge, insbesondere da sich die Abschiebung krimineller Flüchtlinge teilweise als schwierig gestaltet. Wie kann die Abschiebung beschleunigt werden und wie beurteilen Sie die Stimmungslage in Deutschland?

Bei den Abschiebungen kann ich den Unmut zumindest nachvollziehen. Aber wir sollten uns von fragwürdigen Einzelfällen nicht täuschen lassen und rechtsstaatliche Prozesse in Frage stellen, auch wenn Abläufe immer optimiert werden können. Zudem gibt es Tausende freiwillige Ausreisen, über die man kaum spricht. Mit Angst und Hass lässt sich leider leicht Politik machen. Die meisten durchschauen das zwar, aber eben nicht alle. Ich bin Optimist, weil sich immer noch so viele Menschen für Flüchtlinge engagieren. In Umfragen wird immer wieder deutlich, dass eine breite Mehrheit der Deutschen auch weiter Verfolgten Asyl geben möchte. Und mehr als 80 000 Menschen unterstützen unseren Partner UNO-Flüchtlingshilfe mit regelmäßigen Spenden.

Es gibt inzwischen auch viele Flüchtlinge, die unsere Sprache gelernt und einen Job gefunden haben. Ist Deutschland bei der Integration Ihrer Meinung nach auf einem guten Weg und was muss sich noch verbessern?

Deutschland ist auf einem sehr guten Weg, aber natürlich lernt man jeden Tag dazu. Überlegen Sie, wie schwer es für die Flüchtlinge in der Fremde ist: Freunde findet man am besten bei der Arbeit, Arbeit aber nur mit guten Deutschkenntnissen und gutes Deutsch lernt man am besten mit Freunden. Wir erleben aber jeden Tag, wie Flüchtlinge lernen, lernen und lernen wollen. Entweder für einen neuen Start in der Heimat, oder um der Gesellschaft, der sie so viel verdanken, etwas zurückzugeben. Dass ist das Schöne an meinem Beruf: Es gibt keinen Tag ohne gute Nachrichten.

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