Lörrach Verehrt und verhasst

Jürgen Scharf
Der Auftakt der Wintergäste mit Christa Wolfs „Medea. Stimmen“ war ein spannend inszeniertes Hörstück. Foto: Jürgen Scharf

Wintergäste: Auftakt mit Christa Wolfs „Medea. Stimmen“.

Lörrach - Sie wurde als „blutige Rosa“ verleumdet und von Söldnern ermordet: Rosa Luxemburg, deren 100. Todestag dieser Tage gedacht wird. Keine Frau wurde seinerzeit derart verehrt und war so verhasst wie sie. Ihr Schicksal ähnelt entfernt dem Medeas. Auch sie zuerst verehrt, dann als blutrünstige Furie angeklagt des Mordes an ihrem Bruder und ihren Kindern.

Sowohl bei der radikalen Linken Rosa Luxemburg wie beim gängigen Medea-Bild fragt es sich: Stimmt es, oder stimmt es nicht? Was ist Legende, was Mythos, was Historie? Wessen Interessen sind es gewesen, die eine als „blutige Rosa“, die andere als „wilde Frau“ und Mörderin hinzustellen?

"Wintergäste"

An diese Parallelen musste man denken bei der Auftaktlesung der diesjährigen „Wintergäste“ im Werkraum Schöpflin, die sich dieses Mal Literatur aus dem Osten zuwenden. Mit „Medea. Stimmen“ hat Christa Wolf eine Neudeutung der Sagengestalt vorgenommen, mehr: eine radikale Korrektur des Medea-Bildes. Die Geschichte wird wie ein Politkrimi aus dem antiken Korinth erzählt, aus sechs verschiedenen Perspektiven.

Die Stimmen gehören Medea, Jason und vier weiteren Figuren aus dem Umfeld des Königs Kreon. Das Stück beginnt mit einem antiken Chor der Sprecher. Erzählt werden die Abenteuer der Argonauten mit Jason, dem Drachentöter und Heroen, und ihr, Medea, der Priesterin der Hekate, der „bösen Frau“, der Schlangenbezähmerin. Und erzählt wird die Geschichte des Goldenen Vlieses, des Fruchtbarkeitssymbols der Männer, und von Intrigen und Menschenopfern.

Es ist ein politischer Machtkampf, denn einige haben ein starkes Interesse daran, dass Medeas Verhältnis sich verschlechtert. Verschiedene Personen sprechen über Medea, ihre Charakterstärken und -schwächen werden verhandelt. Es sind nüchterne Berichte, in denen die Handelnden mitteilen, dass Medeas Stern am Sinken ist.

Selbstgewisse und hochmütige Medea

Die Medea von Lisa Stiegler selbst zeigt sich relativ selbstgewiss und hochmütig; sie will Jason (Vincent Glander) helfen, das Vlies zu erringen. Der Text von Christa Wolf ist dialogisch und monologisch, und die Dramaturgin Marion Schmidt-Kumke hat vor allem Dialogpassagen ausgewählt und auf zwei volle Stunden komprimiert. Grandios war die Ausgangsidee, die Schauspieler auf einem Podest quer durch den Raum zu schicken, mit sechs Sitzquadern, in einem ständig sich verändernden Spiel.

Für diese Inszenierung wurden Ensemblemitglieder vom Basler Theater, aber auch freie Schauspieler zusammengebracht: Mario Fuchs, Christian Heller, Sibylle Mumenthaler und, neu im „Wintergäste“-Ensemble, Claudia Jahn (sie spielt gleich die böse, durchtriebene Handlangerin und Ränkeschmiedin) sorgen für dichte und starke theatralische Momente. So bekommt jede Figur ein Profil.

Es ist wie eine neue Sparte, hat zwar noch den Lese-Groove, ist aber ganz anders in der Form, der Entwicklung des Lesens. Fast scheut man sich, diesen Abend noch als „szenische Lesung“ zu bezeichnen, man müsste dafür ein neues Format benennen, denn ohne die Manuskripte wäre es ein Kammerspiel gewesen, ein moderner Theaterabend.

Die Schauspieler brauchten irrsinnige Energie für die zwei Stunden auf dem Laufsteg, aber auch die Zuschauer waren mit dem komplexen Text rechtschaffen gefordert. Kann man sich einen ambitionierteren Start in den Lesewinter vorstellen als dieses eindrucksvolle Hörstück mit seiner enormen Schubkraft? Wohl kaum.

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