Lörrach Vom Leben mit Multipler Sklerose

Gabriele Hauger
Grischa Freimann in seinem Zimmer im Margaretenheim Lörrach Foto: Gabriele Hauger

55 Jahre alt wurde Grischa Freimann am Mittwoch – und wohnt in einem Pflegeheim. Hoch intelligent, interessiert und mit trockenem Humor ausgestattet, meistert er seit der Diagnose MS im Alter von 24 Jahren sein Leben. Darüber hat er jetzt ein kleines Buch geschrieben.

Senioren in Rollstühlen sitzen im Foyer des Margaretenheims. An einer Tür im zweiten Stock hängt ein buntes Geburtstagsschild. Hier wohnt seit gut einem halben Jahr der promovierte Lörracher Mathematiker Grischa Markus Freimann. Mit 55 Jahren. „Ich bin hier mit Abstand der Jüngste“, meint er und lächelt.

Die Welt stand offen

Wir besuchen ihn, denn Freimann hat über sein Leben mit der Krankheit Multiple Sklerose ein Buch herausgebracht – auch im Andenken an seinen 2023 verstorbenen Vater, den ehemaligen Rektor des „Hebel“, Hans Freimann. Darin erzählt er von seiner Kindheit in Steinen und Lörrach, vom Hebel-Gymnasium, von Theateraufführungen, nervigen Mitschülern, von Freundschaften durch dick und dünn und seinem Abi mit 1,0. Von einem jungen Mann, dem damals die ganze Welt offenzustehen schien.

Im Rollstuhl

Jetzt sitzt er im Rollstuhl. Noch bis vor einem halben Jahr lebte Freimann mit der Unterstützung von Pflegekräften im Haus seiner Mutter. Im Herbst vergangenen Jahres bekam er Corona, das eigentlich niemand mehr auf dem Schirm hatte – trotz fünffacher Impfung. Es folgten Isolierstation und eine deutliche Verschlechterung seines Zustandes. Stehen wird unmöglich, die Feinmotorik ist verschlechtert. Dies zwang ihn nach dem Krankenhaus, eine Alternative zu suchen. Es ging nicht anders.

Mit 55 im „Altersheim“?

Grischa Freimann ist konzentriert, zugewandt und ein interessierter Gesprächspartner. Wie fühlt man sich, unter „alten Menschen“, das Leben hauptsächlich auf ein Zimmer fokussiert: ein Bett, ein Tisch, ein Computer, ein Fernseher? „Ich bin eher ein ruhiger Typ“, erklärt er. Kneipengänge, Trubel und dergleichen vermisst er daher wenig. „Langweilig wird mir eigentlich nie.“ Er liest viel, vor allem Bücher über Astrophysik. „Alles, was mit dem Urknall zu tun hat, finde ich wahnsinnig spannend.“

Vom Urknall und Wagner

Groß ist auch seine Liebe zur Musik. Als es noch möglich war, fuhr er regelmäßig zu den Bayreuther Festspielen. Wagner – ein Idol. „Barenboim dirigiert Tristan und Isolde – das geht einem so unglaublich nahe“, schwärmt er vom Konzertbesuch. Lange spielte er die Wagner-Melodien Zuhause auf dem Klavier und sang dazu. „Inzwischen ist meine Stimme und mein Atem zu schwach.“ Jetzt hört er viel Musik, besonders aus der Romantik auf CD. Dass er auch für Schubert schwärmt, erkennt man am gedruckten Porträt des Komponisten auf Freimanns T-Shirt.

Promotion und Schock

Neben den üblichen Klavierstunden eines Akademiker-Kindes sang Grischa Freimann früher in einem Studentenchor. Denn zum Wirtschaftsmathematikstudium war er nach Karlsruhe in eine WG gezogen. Später promovierte er. Damals war das Leben vielversprechend. Doch Kribbelsymptomen in den Händen irritierten zunehmend. Bald darauf die Schockdiagnose: Multiple Sklerose. Was denkt man in so einem Moment? „Erst mal war ich sogar froh, eine Diagnose zu bekommen, eine Erklärung, was mit mir los ist. Als mir aber als durchschnittliche Lebenserwartung nur noch 20 Jahre prognostiziert wurden, war ich doch sehr geschockt.“

Was kann helfen?

Was hilft einem mit so einer Diagnose? Ganz sicher liebe Menschen, Gespräche, Vertrauen – und „Ruhe bewahren“, wie er sagt. Bei Grischa Freimann war und ist es vor allem sein Glaube. In Karlsruhe besuchte er regelmäßig die Predigten des Paters Otto Gaupp: „Er sagte grandiose Sätze. Ich war gefesselt.“ Warum ich? Auch bei dieser Frage half ihm der Pater. Grischa Freimann lernte so das Annehmen seines Schicksals. „Gott weiß schon warum.“

Gute und schlechte Tage

Seine berufliche Tätigkeit musste er später aufgeben. Das Arbeitsamt habe ihm in Lörrach keinerlei Angebote gemacht, obwohl das damals noch gut möglich war. Unter anderem als Musikkritiker – auch für unsere Zeitung – frönte er damals seiner großen Leidenschaft: der Musik.

„MS hat eben 1000 Gesichter.“

Das Nicht-Mehr-Rauskönnen bewegt ihn nicht so sehr, wie man meinen könnten. „Ich war schon immer ein Reisemuffel“. Und die Freunde, die er früher besuchte, die kommen jetzt eben zu ihm. Natürlich gibt es gute und schlechte Tage. Schmerz- und Schlafmittel sind unabdingbar. Und das Fatigue-Syndrom nötigt ihm viel Schlaf ab. „Nach 19 Uhr geht bei mir nichts mehr.“ Grischa Freimann bewundert Menschen wie die Politikerin Malu Dreyer, wie diese ihre Krankheit meistern. Eins zu eins umrechnen lasse sich das aber keinesfalls. „MS hat eben 1000 Gesichter.“

Suizid-Gedanken?

Auch darum ist eine Diagnose über seine Zukunft schwierig. Suizid-Gedanken Betroffener kann er verstehen, hatte sie auch schon selbst. Jetzt aber will er weiterleben, so lange sein Zustand nicht deutlich schlechter wird. „Alles weitere klärt meine Patientenverfügung.“ Und er will die kleinen Momente genießen: Besuche, ein faszinierendes Buch, ein gutes Essen („ein Mal die Woche gönne ich mir was Feines von außerhalb“).

Mit seinem Buch will er anderen Betroffenen Mut machen. Der Titel sagt eigentlich schon alles: „Länger mit MS als ohne. Und trotzdem ein erfülltes Leben haben.“

Von Grischa Markus Freimann, novum Verlag; im Buchhandel erhältlich sowie als e-book

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