Umgekehrt ist es aber auch Europas queere Community, die dem ESC neues Leben eingehaucht hat und ihn zum aufregenden Musikwettbewerb macht, der er heute ist.
Der Eurovision Song Contest (ESC) bricht mit den Normen und begeistert besonders Menschen aus der LGBTQI+-Gemeinschaft – vor allem in der deutschsprachigen Schweiz.
Umgekehrt ist es aber auch Europas queere Community, die dem ESC neues Leben eingehaucht hat und ihn zum aufregenden Musikwettbewerb macht, der er heute ist.
Für viele queere Menschen ist der ESC mehr als nur Unterhaltung: „Er macht queere Lebensrealitäten seit Jahrzehnten sichtbar und bringt sie bis in die konservativsten Familienstuben“, erklärt Roman Heggli, Geschäftsführer von Pink Cross, der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Der Wettbewerb schaffe Raum für queere Ästhetik, spiele bewusst mit Übertreibung und Ironie und biete gleichzeitig eine Bühne für Botschaften, die gesellschaftliche Normen hinterfragen.
Von der israelischen Trans-Sängerin Dana International im Jahr 1998 über die Serbin Marija Serifovic (2007), den St. Galler Michael von der Heide (2010), die österreichische Dragqueen Conchita Wurst (2014) und den Niederländer Duncan Laurence (2019) bis hin zum Briten Olly Alexander und dem Schweizer Nemo im vergangenen Jahr – die Liste der queeren Teilnehmer seit den späten 1990er-Jahren ist lang. Laut Roman Hegglis Beobachtung haben diese Musiker unter anderem die Diskussion um die Rechte von Trans-Menschen um Non-Binariät in Europa angekurbelt.
Dieses Phänomen begann mit dem Sieg von Dana International im Jahr 1998. Thomas (der Nachname ist der Redaktion bekannt) erinnert sich nur zu gut daran. Der Genfer mit elsässischen Wurzeln Anfang fünfzig ist ein großer ESC-Fan. Er besuchte die Show im Jahr 2011 in Düsseldorf und ein Jahr später in Aserbaidschans Hauptstadt Baku. Schon in den 1980er-Jahren schaute er sich den Musikwettbewerb gemeinsam mit der Familie im Fernsehen an.
Für Thomas ist die Begeisterung der queeren Community für den ESC logisch: „Es gab immer schon LGBT- oder unter Schwulen beliebte Künstler beim ESC. Und das schwule Publikum ist ein treues Publikum.“ Selbst in Aserbaidschan, einem Land, in dem Homosexualität noch weitgehend tabuisiert ist, hätten die schwulen Fans keine Feindseligkeiten gespürt, erinnert er sich.
Ein weiterer Grund für den Enthusiasmus der queeren Fans sei, dass es auch unter ihnen keine Feindseligkeiten gebe – wie das etwa manchmal unter Fußballfans der Fall ist – und sie leicht miteinander in Kontakt kommen würden: „Vor Ort laufen jeweils die Dating-Apps heiß“, sagt Thomas der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
In eine Gastgeberstadt des Eurovision Song Contests zu reisen, sei ein bisschen wie Ferien in Mykonos oder Sitges, bestätigt David aus Zürich: „Die Dichte an schwulen Männern am ESC ist so hoch, dass man sich dem kaum entziehen kann. Vor allem in der Arena und in den Clubs.“ David war im Jahr 2015 in Wien beim ESC dabei, 2018 in Lissabon und 2022 in Turin. Zweimal war er sogar Teil der internationalen Fanjury für die österreichische ESC-Songauswahl. Und im Mai wird der Fan Anfang 40 nach Basel reisen.
Jean-Marc Richard kommentiert die Show für das Westschweizer Fernsehen. Um die Jahrtausendwende sei der Enthusiasmus schwuler Menschen geblieben, während der ESC generell an Bedeutung zu verlieren drohte. Er ist deshalb der Meinung, dass die schwule Community den Eurovision Song Contest in mancherlei Hinsicht gerettet hat. Sie habe sich integriert gefühlt und feiere deshalb diese Vielfalt, die sie selbst in den Wettbewerb eingebracht hat.
Ist der Eurovision Song Contest also zu einem queeren Phänomen geworden, das von Heterosexuellen gemieden wird? Das sei zu undifferenziert, findet David: „Ich beobachte in meinem beruflichen und familiären Umfeld generell viel Interesse für den ESC. Es scheint aber auch einen Unterschied zwischen heterosexuellen Männern und Frauen zu geben. Letztere interessieren sich stärker dafür.“
Heggli von Pink Cross sagt: „Viele Schwule verfolgen den ESC stärker und organisieren etwa private ESC-Partys, während Heterosexuelle den Wettbewerb eher beiläufig oder mit ironischem Abstand schauen.“
Neben der sexuellen Orientierung dürfte ein anderer Indikator wichtig sein, wenn es um die Begeisterung für den Musikwettbewerb in der Schweiz geht: Der Röstigraben. Mit der Wahl von Basel als Austragungsort wies die SRG vergangenes Jahr darauf hin, dass er in der deutschsprachigen Schweiz auf mehr Begeisterung stoße. Thomas, der früher in Basel gelebt hat, bestätigt dies: „Wir haben damals jedes Jahr eine ESC-Party geschmissen. In der Westschweiz gibt es hingegen nur wenige, die daraus einen festlichen Abend machen wollen.“ Seiner Meinung nach hat der ESC in den frankofonen Gebieten ein altmodisches Image. Er führt es darauf zurück, dass Frankreich seit den 1980er-Jahren kaum noch gute Beiträge ins Rennen schicke.
Kommentator Jean-Marc Richard erklärt das kleinere Interesse in der Romandie hingegen damit, dass die Schweiz seltener mit französischsprachigen Musikern am ESC teilnimmt: „Wir haben uns oft weniger betroffen gefühlt“, so der Kommentator. Außerdem seien die Deutschschweizer anglophiler und würden sich stärker am kommerziellen Pop orientieren.