Neuenburg am Rhein Politisches Kabarett vom Feinsten

Dorothee Philipp
Arnulf Rating gastierte mit seiner Jahrespresseschau im Neuenburger Stadthaus. Foto: Dorothee Philipp

Mit Arnulf Rating stand wieder einmal ein ganz Großer des klassischen politischen Kabaretts auf der Bühne des Neuenburger Stadthauses.

Es ist der veranstaltenden Markgräfler Gutedelgesellschaft ein Anliegen, diese Sparte anspruchsvoller Kleinkunst zu pflegen in Zeiten, wo oberflächliche Albernheiten und wohlfeile Blödeleien als komödiantisches Fast-Food das Internet fluten.

Mit seiner Jahrespresseschau 2024 schürft und gräbt der Mann im eleganten Dreiteiler und roten Lackschuhen in den Ereignissen des zurückliegenden Jahres, wobei man schnell feststellt, dass viele der angerissenen Themen eine längere Vorgeschichte haben. Der Abend kreist immer wieder um die Frage „Was ist schiefgelaufen?“, wobei dem Publikum einiges an gedanklichem Stehvermögen abverlangt wird.

Rating stürmt die Bühne und legt gleich los, eine Diaschau mit prägnanten Fotos untermalt seinen Schwall aus brillanten Wortspielen und scharfsinnigen Anmerkungen: der Mauerfall, damals frenetisch bejubelt, die kaputte Brücke in Dresden („Ruinen schaffen ohne Waffen“), 75 Jahre Grundgesetz, dazwischen ein Friedensappell der über 100-jährigen Zeitzeugin Margot Friedländer, Pistorius‘ Anspruch auf Kriegstauglichkeit, die schwächelnde deutsche Wirtschaft – das sind keine Themen, die schallendes Gelächter vertragen, aber geschmunzelt wird doch ausführlich über die Virtuosität, mit der Rating alles zu einem großen kritischen Gedankenpuzzle verschweißt. Die Metamorphose seiner ehemaligen WG-Kollegen zu Wirtschaftsbossen und Kriegsgewinnlern nimmt man Rating, Baujahr 1951, als authentisch ab. Jaja, das waren Zeiten, als man in Mutlangen protestierte und sich über Telefonketten organisierte, in der WG-Küche Lambrusco trank und sich herzhaft stritt, jedes Mal mit der Absicht, sich nie wieder zu treffen.

Besinnlich im Ton und scharf in der Sache das zu Kerzenlicht vorgetragene Märchen vom Radkäppchen und dem guten Golf, an dessen Ende das Lastenfahrrad als das neue SUV gepriesen wird. Beim Auftritt des von Kreuzschmerzen geplagten Hausmeisters lässt Rating dem Ruhrpott-Slang ausgiebig Zeit, einen prolligen Charme zu entfalten, dann geht es weiter mit einem bemerkenswerten, brillanten Exkurs zum Thema Propaganda, das er mit einem Foto illustriert: Der Teenie Boris Becker schenkt bei einer Audienz dem Papst einen Tennisschläger, auf dem dick und fett das Puma-Logo prangt. Millionenfach reproduziert in der Presse.

Was haben wir erreicht? Was haben wir verändert? Was wollen wir wirklich?, fragen sich die Boomer auf dem Sofa. Dass es in all der waffenstarrenden Finsternis unserer Zeit Lichtblicke gibt, tröstet ein wenig: Man sollte sich mal wieder einen Auftritt des West-Eastern Divan Orchestra ansehen, wo Kultur als Exportschlager gefeiert wird, und sich auf die wahren Stärken unseres Landes besinnen. Das Publikum im fast ausverkauften Stadthaus feierte Rating. Hermann Dörflinger von der veranstaltenden Gutedelgesellschaft überreichte ihm eine Magnumflasche Gutedel. Dafür ließ der Künstler noch zwei Zugaben springen, darunter eine gepfefferte Ohrfeige für kindesmissbrauchende Pfarrer und Priester.

  • Bewertung
    0

Beilagen

Umfrage

Robert Habeck auf der Weltklimakonferenz

Der Grünen-Spitzenkandidat will Sozialabgaben auf Kapitalerträge. Was halten Sie davon?

Ergebnis anzeigen
loading