Parabelflug im Selbsttest 22 unfassbare Sekunden schwerelos

Simon Rilling

Heute fliegt Alexander Gerst zur Internationalen Raumstation ISS (International Space Station). Sechs Monate wird er dort verbringen. Trainiert wird das Leben und Arbeiten in Schwerelosigkeit mit Parabelflügen. Unser Reporter war dabei.

Köln - „Wenn Sie sich übergeben müssen, dann machen Sie bloß die Kotztüte wieder zu“, rät ein Herr in der dritten Reihe bei der abendlichen Info-Veranstaltung lachend. „Sonst fliegt Ihnen die ganze Brühe wieder entgegen.“ Der Tipp ist ernst gemeint, schließlich werden die Teilnehmer bald etwas absolut Überirdisches erleben, lädt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Köln doch zu einem Parabelflug und völliger Schwerelosigkeit ein – ohne Angst vor der Landung. Nur der Magen reagiert mitunter etwas erdverbunden.

Die Aufschrift auf dem Bus, der Passagiere und Besatzung am nächsten Morgen auf das Rollfeld des Flughafens Köln/Bonn bringt, verheißt nichts Gutes. „Rote Linie“ steht blutrot auf der elektronischen Anzeige. Eine gute Stunde später, irgendwo über Brandenburg, ist für Bedenken keine Zeit mehr. „Three, two, one . . . and pull up“, tönt es aus den Lautsprechern, dann zieht Pilot Stéphane Pichenet den Airbus A 300 Zero-G steil nach oben. Die erste Parabel hat begonnen, und in der nächsten Minute wird nichts mehr sein, wie es war.

Als die Maschine fast senkrecht in der Luft steht, nimmt der Pilot plötzlich den Schub aus den Triebwerken, die Turbinen verstummen, und dann ist es endlich so weit: 137 Tonnen Aluminium, Stahl und Titan segeln durch die Luft, während sich im Inneren die Schuhsohlen mit einem leisen „Plopp“ vom Boden lösen. „Injection“, „Zündung“, schallt es durch die Kabine, und mit einem Mal schweben die in blaue Astronauten-Overalls gekleideten Passagiere wie Pingpong-Bälle durch die gepolsterte Maschine. Reicht doch ein leichtes Abstoßen vom Boden schon aus, um blitzschnell an die Decke zu gehen.

22 Sekunden dauert das Unfassbare. 22 Sekunden, in denen der Mensch nur aus seinen Augen besteht und der Rest des Körpers erst wieder spürbar wird, wenn er einem vorbeischwebenden Mitreisenden zu nahe kommt. An der Decke bilden sich immer wieder blaue Knäuel aus Armen, Beinen, Köpfen und fassungslosen Gesichtern. Dazwischen immer wieder Jubelrufe, gelegentlich unterbrochen von einem „Oh, Entschuldigung“, weil die Nase des einen dem Fuß des anderen Körperlosen auf Zeit gerade im Weg war. Noch einmal wie Superman mit der rechten Faust voran durch die Kabine fliegen, dann hat die Maschine den Zenit der Parabel überschritten. Es geht wieder abwärts. „Forty . . . thirty . . . three . . . two . . . one . . . and pull out“, meldet sich Kapitän Pichenet aus dem Cockpit, und hinten verwandelt sich die Leichtigkeit des Seins wieder in doppelte Erdanziehungskraft.

Wie StN-Redakteur Simon Rilling seinen Selbstversuch versucht hat zu filmen, sehen Sie hier.

Alles wird schwer, schlaff hängen die Arme herab, nur nicht bewegen, der Blick stier geradeaus, um das Gehirn nicht zu überfordern. Die Gefahr sich zu übergeben sei genau jetzt am größten, hatte DLR-Chef Johann-Dietrich Wörner eindringlich gemahnt: „Kopf und Augen während dieser Zeit auf keinen Fall bewegen, sonst passiert Folgendes. Die Augen melden: Ich bewege mich. Die Ohren melden: Ich stehe ganz still. Der Magen meldet: Mir wird schlecht.“ Also stehen die Passagiere wie angewurzelt da. Fassungslos, ungläubig. Das Scopolamin, das vor dem Flug angeboten wurde, zahlt sich jetzt aus. Dank des Präparats, das den Brechreiz unterdrückt, ist zwischen dem Jubel und Gelächter kein einziges Würgen zu hören.

Zwölf Parabeln sind vorgesehen, fünfzehn werden es am Ende sein. Das Wetter ist gut, 4000 Meter über Brandenburg. Zur Einstimmung fliegt Pichenet eine Mars-Parabel, dann zwei Mondparabeln. Die ersten schüchternen Hüpfer, doch Mars und Mond sind nichts gegen das All, das Nichts, das einen umfängt, wenn der Körper komplett an Bedeutung verloren hat. Drei, zwo, eins, und schon segelt alles wieder schwerelos durch das mit Auffangnetzen gesicherte Flugzeug. Irgendwo fliegen ein paar Smarties durch die Luft. Wassertropfen werden zu Kugeln, bis ihnen ein Fuß in die Quere kommt. Ein paar Leute haben eine Kette gebildet, die nun durch das Flugzeug schlingert. Aus den menschlichen Pingpong-Bällen sind Billard-Kugeln geworden, die nun gemächlich durch das Innere des Fliegers rollen. Einige schlagen Salti – bis der Pilot sie wieder auf den Boden der Realität herunterholt und aus Superman Armstrong wieder Müller, Maier oder Huber wird.

An Bord der zweistrahligen Düsenmaschine ist an diesem Tag auch Alexander Gerst. Der 38-jährige Geophysiker aus Künzelsau wird als elfter Deutscher ins All fliegen. Hinter ihm liegen jahrelanges Training, Russisch-Kurse und penible Vorbereitung. Vor ihm liegen sechs Monate an Bord der internationalen Raumstation ISS – und viel Arbeit. 100 Experimente sind geplant. So wird Gerst etwa neue Metalllegierungen testen. Mit den Daten, die Gerst aus dem All liefert, sollen auf der Erde neue Materialen entwickelt werden, „beispielsweise für leichtere Flugzeugtriebwerke, die weniger Treibstoff verbrauchen“. Nicht umsonst hat die europäische Weltraumbehörde Esa Gersts Mission in Anlehnung an eine Aufnahme der Erde aus dem All „Blue Dot“ genannt, zu Deutsch: blauer Punkt. Zeigt das Logo zwei Hände, die sich schützend um den aus dem All so schutzbedürftig wirkenden Planeten wölben.

Zugleich soll Gerst den Einfluss der Erdanziehungskraft auf physikalische Phänomene untersuchen, der bei Schwerelosigkeit umso augenfälliger wird. „Eine Reise ins All hat das Potenzial, einen einfach umzuhausen“, sagt Gerst. Das gilt – im Kleinen – auch für einen Parabelflug, vor allem für diejenigen, die das All nie erreichen werden. Also alle außer Alexander Gerst. Dementsprechend ausgelassen ist die Stimmung nach jeder Runde, und das Gegacker der Eintagsastronauten verstummt erst, als der Pilot den Countdown zur nächsten Parabel einläutet.

Für Jubelrufe und misslungene Schnappschüsse, die meist nur einen Fuß oder den halben Kopf zeigen, haben die Wissenschaftler an Bord keine Zeit. In einem durch Fangnetze gesicherten Bereich haben sie ihre Labors, Rechner und Versuchsanordnungen aufgebaut, denn nur bei einem Parabelflug kann der Forscher sein Experiment begleiten und – falls nötig – eingreifen. Eine Möglichkeit, von der an diesem Tag die Deutsche Sporthochschule Köln und Biologen von der Universität Bayreuth Gebrauch machen. Während die Kölner eine Versuchsperson mit einer weißen Haube voller Elektroden ausstatten und ihr mathematische Aufgaben vorlegen, wird nebenan untersucht, wie Plankton-Organismen auf Schwerelosigkeit reagieren.

Waren Parabelflüge ursprünglich dazu gedacht, angehende Astronauten auf die Zeit im All vorzubereiten, dienen sie heute in erster Linie der Forschung. Ein Schwerpunkt ist neben physikalischen Phänomenen und Materialforschung die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden in der Medizin. So altern Astronauten in Schwerelosigkeit praktisch im Zeitraffer, was wertvolle Rückschlüsse auf den Alterungsprozess des Menschen liefern kann.

An irdische Mühen und Qualen verschwenden die Eintagsastronauten keinen Gedanken. Stattdessen warten sie schon wieder auf den nächsten Countdown und den Moment, in dem sich die Schuhsohlen wieder mit einem leichten „Plopp“ vom Boden lösen.

„Drei, zwei, eins und Zündung!“

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