Schliengen Essstörungen bei Kindern nehmen zu

Alexander Anlicker

Interview: Ernährungsberaterin spricht über fehlende Bewegung und zunehmenden Stress im Lockdown

Schliengen -  Ein halbes Jahr coronabedingten Lockdown mit Home Office einerseits und fehlenden Sportangeboten andererseits hinterlässt seine Spuren. Beim einen oder anderen macht sich das auch auf der Waage bemerkbar.

Die Schliengener Ernährungsberaterin Sonja Mannhardt beschäftigt sich mit dem Thema Ernährung und Corona und berichtet im Gespräch mit unserer Zeitung aus der Praxis.

Frage: Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie für Sie als Ernährungsberaterin? Haben Sie mehr Patienten?

Es gibt Bereiche, da haben die Patientenzuweisungen deutlich zugenommen: starkes Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Essstörungen. Betroffen sind Kinder, Jugendliche, pflegende Angehörige, sowie die Berufsgruppen, die unter Corona zu leiden haben.

Zu Anfang der Pandemie kamen schwer Erkrankte eher nicht, wohl aus Angst. Heute sind sie wieder da, allerdings häufig schwerer erkrankt als vor der Pandemie. Insbesondere die Nachfrage nach Online-Beratungen hat stark zugenommen.

Frage: Welchen Einfluss haben Home Office, Home-Schooling sowie fehlende Sportangebote auf das Wohlbefinden und die Gesundheit? Welchen Beitrag kann die Ernährung leisten?

Um unser Immunsystem fit zu machen, benötigt es Bewegung. Wir wissen, dass „Couch-Potatoes“ stärker zu Übergewicht neigen und unter einer Corona-Infektion ein vielfach höheres Risiko tragen für einen schwereren Verlauf. Kinder und Erwachsene sollten dringend raus an die Luft, sollten sich wieder täglich 30 Minuten bewegen, das hält schlank, reduziert Stress und wir bilden darüber hinaus noch wichtiges Vitamin D, was gut fürs Immunsystem und das Wohlbefinden ist.

Apropos: Das Wohlbefinden von Frauen und Männer im Home Office ist verschieden. Meist leiden Frauen mehr unter Home Office als Männer. Sie sitzen am Küchentisch, kümmern sich vielfach mehr um die Kinder und deren Home-Schooling und schmeißen auch noch das Gros der Hausarbeit. Kantinen haben geschlossen, wodurch zwar häufiger zu Hause gekocht wird, aber wenn alle täglich zu Hause sind, ist die Verpflegung nicht immer ausgewogen, frisch und gesund zubereitet. Viele Frauen kommen da an ihre Grenzen, was die Verpflegung anbelangt.

Doch auch bei Singles ist das Home Office nicht ganz einfach. Man kocht nicht, snackt sich durch den Tag, der Weg zum Kühlschrank ist nicht weit und die Lust zu kochen hält sich häufig in Grenzen. Es gibt zwei Lager: Entweder Fastfood, schnell und wenig Immunsystem stärkend inklusive höherer Konsum von Alkohol und Süßigkeiten, oder es wird zu Hause gekocht, Gemüsekisten oder Kochboxen werden gekauft und eine viel gesündere Ernährung ist auf dem Vormarsch. Wir finden beide Strömungen.

Frage: Und wie ist die Situation bei den Kindern?

Dasselbe trifft bei Kindern im Home-Schooling zu. Dort, wo das Internet gut funktioniert, die Kinder mit Computern, Druckern und so weiter gut ausgestattet und die Mütter nicht völlig überlastet sind, klappt es ganz gut. Doch bei Kindern aus ärmeren Familien, wo Mütter alleinerziehend sind, dort wo Kinder psychisch stark unter Einsamkeit und Home-Schooling leiden, dort gehen viele Kinder auseinander wie Hefeteig, oder rutschen in eine Essstörung ab.

Das Leid ist groß, wenn Essen als Ersatz für andere Bedürfnisse herangezogen wird. Daher brauche ich mehr denn je, meine ernährungspsychologische Expertise für Naschkatzen, Nimmersatts, Frust- und Stressfresserchen und Co.

Frage: Haben Menschen mit Übergewicht ein höheres Risiko für einen schwereren Covid-19-Verlauf?

Ja, das ist tatsächlich in vielen Studien erforscht. Altersunabhängig haben Menschen mit starkem Übergewicht ein zweifach erhöhtes Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken und hospitalisiert zu werden sowie ein 1,5-fach erhöhtes Risiko, daran zu sterben. Mögliche Gründe sind das viszerale Bauchfett, assoziierte Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes und auch der Lebensstil mit Bewegung und Ernährung.

Frage: Welche Rolle spielt die Ernährung?

Unsere drei stärksten Immunsysteme sind angewiesen auf eine Vielzahl an Substanzen, die wir mit der Nahrung zu uns nehmen. „Western-Diet“ ist arm an wichtigen Nährstoffen damit unser Immunsystem erfolgreich funktioniert. Viele Covid-19-Patienten weisen aber einen Mangel an Mikronährstoffen auf, insbesondere an den Vitaminen A, der B-Gruppe, C und D sowie an Zink, Eisen und Selen. Das heißt aber nicht, dass man Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen sollte, sondern zunächst einmal seine Laborwerte testen und für eine gute Basisernährung sorgen sollte.

Da es die gesunde Ernährung für Jedermann aber nicht gibt, ist der Gang zur Ernährungstherapie wichtig und notwendig. Wir analysieren in 60 Minuten zunächst die Laborwerte, die Vorerkrankungen, das Essverhalten, Gewicht und Befinden, sowie die Medikamente, die jemand einnimmt und beraten dann vollständig individuell. Ernährung von der Stange gibt es in der ärztlich verordneten Ernährungstherapie nicht.

Frage: Auch gesunde Sportler sind vor einer Covid-Erkrankung nicht gefeit. Eine gesunde Ernährung alleine schützt also nicht?

Bewegung bietet einen gewissen Schutz vor schweren Verläufen, eine ausgewogene, vitalstoffreiche Ernährung auch. Doch wir wissen auch hier: Die Dosis macht das Gift. Wer sich körperlich verausgabt und nach einer erlittenen Covid-Erkrankung zu früh wieder mit dem Training beginnt, riskiert wieder seine Gesundheit.

Wir kennen bereits einige Fälle von Sportlern, die jetzt unter Long-Covid leiden. Bei jedem zehnten Patienten ist mit Langzeit- und Spätfolgen zu rechnen, darunter leider auch Sportler, die zu schnell wieder das Training aufgenommen haben, sowie Menschen, die zu schnell und ohne ausreichende Reha wieder mit Vollgas an den Arbeitsplatz zurückgekehrt sind.

Frage: Haben Sie Beispiele aus Ihrer täglichen Praxis?

Long-Covid: Eine Frau, die ich kenne, musste in Frührente, weil sie nicht mehr auf die Beine kam und auch Monate später nicht leistungsfähig war. Eine andere musste von ihrer Führungsposition abgezogen werden. Sowohl mit Post-Covid, als auch mit Long-Covid werden wir noch länger zu tun haben. Ich bin aber hoffnungsvoll, dass gezielte Ernährungstherapie einen genesenden Beitrag leisten kann.

Sonja Mannhardt ist Ernährungswissenschafterin und seit 30 Jahren in der Ernährungstherapie tätig, zunächst in einer Universitätsklinik, später in ihrer Praxis in Schliengen. Spezialisiert ist Mannhardt auf komplexe ernährungsabhängige Erkrankungen und auf ernährungspsychologische Fragestellungen. Seit der Pandemie hat sie eine neue Online-Akademie gegründet und engagiert sich für das Thema Ernährung und Corona.

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