Spendenaktion „Leser helfen“ Ein Unfall stellt das Leben auf den Kopf

Siegfried Feuchter
Lea Kruse, Psychologische Beraterin und Gesundheitsmanagerin im Fachbereich Seelische Gesundheit, im Gespräch mit Gerd D. Foto: Siegfried Feuchter

Welch schwerwiegende Folgen ein Unfall für das weitere Leben haben kann, zeigt die Lebensgeschichte eines 62-jährigen Mannes aus Schopfheim. Er ist seither psychisch krank und wird von der Außenstelle des Diakonischen Werks betreut.

„Bis zu meinem Unfall mit 16 Jahren verlief alles wunderbar“, sagt Gerd D. Er war ein talentierter und ambitionierter Fußballauswahlspieler, der von einer Profikarriere träumte und entsprechend hart trainierte. Aber seine Karrierepläne wurden im Oktober 1976 jäh durch einen schweren Unfall beendet. Und seither leidet der Frührentner an einer psychischen Erkrankung. Er lebt von der Grundsicherung, davon bleiben ihm etwa 300 Euro zum Leben. Größere Anschaffungen kann er sich nicht leisten. Dabei bräuchte er eine neue Matratze. Jetzt hofft er, über den Spendentopf der Weihnachtsaktion des Verlagshauses Jaumann (Die Oberbadische, Weiler Zeitung, Markgräfler Tagblatt) einen finanziellen Zustupf zu bekommen, um sich seinen Weihnachtswunsch erfüllen zu können.

„Nie ein festes Standbein“

Gerd D., der im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, war mit seinem Moped auf dem Nachhauseweg, als eine starke Windböe sein Zweirad plötzlich gegen einen stehenden Lkw drückte. Er prallte mit dem Kopf gegen eine Eisenstange und zog sich dadurch einen schweren Schädelbruch und Kniefrakturen zu. Eine 14-stündige Operation und starke Auswirkungen auf sein weiteres Leben waren die Folgen. „Ich habe es daraufhin in meinem Leben nie mehr geschafft, ein festes Standbein zu bekommen“, sagt der 62-Jährige, der immer wieder mal auf der Straße lebte.

Mit 17 Jahren hatte Gerd D. seine erste Depression, und mit 19 Jahren wurde eine bipolare Störung diagnostiziert. „Bipolare Störungen oder manisch-depressive Erkrankungen zeichnen sich durch ausgeprägte Schwankungen im Antrieb, im Denken und in der Stimmungslage einer Person aus. So durchleben Menschen mit bipolaren Störungen depressive Phasen und Phasen euphorischer oder ungewöhnlich gereizter Stimmung“, definiert die Gesellschaft für Psychiatrie diese Krankheit.

„Unruhe in mir“

Gerd D. musste starke Medikamente nehmen und hatte immer wieder Zusammenbrüche. „Eine Manie ließ ihn zum einen in einem Gefühlshoch als obdachloser Straßenmusiker leben, zum anderen versank er in ein extremes Gefühlstief. Dabei verlor er zeitweise jeglichen Lebenswillen“, schildert Lea Kruse von der Diakonie-Außenstelle Schopfheim, die Gesundheitsmanagement studierte und sich zudem im Fachbereich Seelische Gesundheit fortbildete. Sie betreut den psychisch kranken Mann und macht auch einmal pro Woche einen Hausbesuch. Er soll dabei in tagesstrukturierende Maßnahmen eingebunden werden.

Gerd D. hatte den Beruf Stahlbetonbauer gelernt. Als er fünf Meter von einem Gerüst herunterfiel, jedoch nicht aus Unachtsamkeit, sondern als eine Folge seiner Krankheit, orientierte er sich nach Wiedererlangen seiner Arbeitsfähigkeit beruflich um und lernte von 1985 bis 1987 den Beruf des Altenpflegers. Er war in den Folgejahren in verschiedenen Heimen und Sozialstationen tätig. In den 90er Jahren, in denen er zusammen mit einem Kollegen ein Alzheimer-Projekt aufbaute, litt er auch unter Suizidgedanken. Nach zweieinhalb Jahren stieg er aus dem Projekt aus. „Ich konnte nicht mehr.“ Er versuchte immer wieder mal, wenn er keine Arbeitsstelle mehr hatte, als Straßenmusiker Geld zum Leben zu verdienen. Denn das Gitarrenspiel und das Schreiben von Liedtexten machten ihm viel Freude. „Die meiste Zeit in meinem Leben war ich allein, es gab keine Kontinuität in meinem Leben“, blickt er zurück.

Oft auf der Straße gelebt

Gerd D., der eigenen Angaben zufolge immer eine Unruhe in sich verspürte und nirgends Wurzeln schlagen konnte, wagte einen Neuanfang in Berlin. Dort lernte er eine Frau kennen und wurde Vater einer Tochter. „Ich war aber nicht in der Lage, auf Dauer in einer Kleinfamilie zu leben“, erzählt der 62-jährige Mann. Nach zehn Jahren ging die Beziehung in die Brüche, seine Tochter, zu der er keinen Kontakt mehr hat, lebt inzwischen in Israel. Er ist überzeugt, dass sich seine Krankheit auch auf seine Beziehungsfähigkeit ausgewirkt hat. Insgesamt verbrachte Gerd D. 30 Jahre in Berlin, die letzten 15 Jahre in einer kleinen Wohnung in Neukölln. Als er diese auch noch verlor, landete er wieder auf der Straße. Heute, im Rückblick, weiß der 62-Jährige, dass es ein großer Fehler war, eine längere Zeit die Medikamente abzusetzen. Eine Obdachloseneinrichtung war damals seine Anlaufstelle, wo ihn schließlich die in Schopfheim lebende Schwester ausfindig machte und ihn im Dezember 2022 hierher in die Markgrafenstadt holte.

In Normalität zurückfinden

Zunächst kam Gerd D. für vier Monate in eine Psychiatrie, um medikamentös neu eingestellt zu werden. Danach besuchte er in Lörrach drei Monate lang eine Tagesklinik, ehe er schließlich den Weg zur Diakonie fand. Er lebt jetzt in einer kleinen Wohnung in Schopfheim und versucht, „Tag für Tag zurechtzukommen“. Dies in kleinen Schritten, denn oft fühle er sich immer noch überfordert, gerade, wenn es um organisatorische und bürokratische Angelegenheiten geht. Auch fällt es ihm nicht leicht, eine neue Tagesstruktur aufzubauen und sozialen Anschluss zu finden. Sowohl seine Schwester als auch die Angebote der Diakonie sind aber sehr hilfreich für ihn.

Seit Gerd D. täglich den offenen Treff der Tagesstätte in Schopfheim besucht, wo zum Beispiel gemeinsam gekocht und gebastelt wird, findet er Schritt für Schritt in die Normalität zurück. Hier bekommt er Gemeinschaft und Anbindung. Dies zumal, da er sich vier Stunden täglich in der Tagesstätte auch einbringt und mitarbeitet. „Das tut mir gut und ist Gold wert“, sagt er voller Zuversicht. Und Lea Kruse bestätigt: „Er ist auf einem guten Weg.“

Psychisch kranken Menschen hilft das Diakonische Werk

„Psychisch kranke Menschen
haben keine Lobby“, sagt Lea Kruse (32), psychologische Beraterin und studierte Gesundheitsmanagerin beim Diakonischen Werk im Landkreis Lörrach in der Dienststelle Schopfheim, und fügt hinzu: „Das Thema psychische Erkrankung wird tabuisiert.“ Umso wichtiger ist die verantwortungsvolle Aufgabe der Diakonie im Dienst der psychisch erkrankten Menschen. „Es geht dabei darum, ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und Hilfe zur Selbsthilfe zu geben“, beschreibt die psychologische Beraterin die Aufgabe. Immer mehr Menschen jeglichen Alters erkranken psychisch, weiß Lea Kruse aus ihrer täglichen Arbeit.

Solche Erkrankungen
kommen häufiger vor als man denkt. Rund 100 Menschen betreuen allein die Diakonie-Außenstellen Schopfheim und Rheinfelden. Und viele stehen noch auf der Warteliste. Unter den Erkrankten sind zahlreiche jüngere Leute, die aufgrund der zunehmenden Digitalisierung vor allem unter Vereinsamung leiden und nur sehr wenige echte Kontakte haben. Auch Menschen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, wenden sich an die Diakonie oder sie werden von der Eingliederungshilfe beim Landratsamt dorthin verwiesen

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