Alie Komeh Kanu aus Sierra Leone und Seraj Wazivi aus Afghanistan betreten das Aufenthaltszelt und setzen sich zögerlich an den Tisch. Die beiden haben sich bereit erklärt, ihre Fluchtgeschichte dieser Zeitung zu erzählen.
Bis Mitte Dezember sollen die Zelte für minderjährige Geflüchtete am Steinener Freibad stehen bleiben. Nun haben wir nach ihrer Lebenssituation gefragt.
Alie Komeh Kanu aus Sierra Leone und Seraj Wazivi aus Afghanistan betreten das Aufenthaltszelt und setzen sich zögerlich an den Tisch. Die beiden haben sich bereit erklärt, ihre Fluchtgeschichte dieser Zeitung zu erzählen.
Seit 2020 ist Alie Komeh Kanu unterwegs, wie er auf auf Englisch erzählt. Zunächst schreibt er die Ländernamen untereinander, in denen er war: Ghana, Mali, Algerien, Libanon, Tunesien und Italien stehen auf dem Zettel und dann geht er die Stationen seiner Flucht durch.
In Mali sei er eine Woche auf der Polizeistation festgehalten worden. Um frei zu kommen, habe er Geld bezahlen müssen. Mit Betteln und Arbeiten habe er sich durchgeschlagen.
Man erfährt bei seiner Erzählung, dass er in Libyien von Milizen in ein unterirdisches Gefängnis gesperrt wurde. „Es gab kaum etwas zu essen, nur Brot.“ 3000 Euro habe dort aufbringen müssen, um freizukommen.
Als er die libysche Wüste durchquerte, habe er einen seiner Freunde verloren, fügt er hinzu.
Drei Mal sei er mit einem Boot über das Mittelmeer nach Italien geflohen, jedesmal habe er mehrere Tage auf hoher See verbracht. Bei der Überfahrt seien einige Menschen ums Leben gekommen. In Italien sei er dreimal zurück geschickt worden. Beim ersten Mal haben ihn die libyschen Milizen ein Jahr und fünf Monate inhaftiert. Im Gefängnis sei er misshandelt worden, sagt er. Um dies zu belegen, zieht er den Pullover hoch. Er zeigt mit der Hand oberhalb der Brust auf eine daumengroße Narbe. „Diese stammt von einer Kugel“, sagt er bestimmt.
Während Alie Komeh Kanu erzählt, reibt er sich die Arme, schiebt die Ärmel seines gelben Anoraks nach oben. An der linken Hand trägt er er ein rotes Band mit dem Schriftzug„Save the Children“.
Im Dezember 2022 sei er dann frei gekommen, fährt er seinen Bericht fort. Ohne medizinische Versorgung habe er auf der Straße leben müssen. Mit einem Boot sei er erneut nach Italien gereist und dann wieder nach Tunesien gebracht worden. Im August 2023 sei es ihm endlich gelungen, nach Lampedusa und dann über Italien in die Schweiz einzureisen. Im Oktober ist er in Steinen angekommen. „Ich möchte mein Leben hier verbringen“, sagt er.
Seine Mutter starb nach seiner Geburt, berichtet er weiter. Er weint, fasst sich schnell wieder. Er habe eine ältere Schwester. Sein Vater sei ein Mitglied in einer „society“ und zum zweiten Mal verheiratet. Zwei seiner Halbbrüder hätten diese Milizen getötet, sagt er. Deshalb sei er geflohen.
Bei Seraj Wazivi übersetzt der Dolmetscher und Sozialpädagoge Nasir Khpalwak. Vor einem Jahr sei er aus Afghanistan geflohen. Afghanistan, Iran, Bulgarien, Türkei nennt er er als Stationen. In Bulgarien habe er mehrfach versucht weiterzureisen. Die Polizisten hätten ihn dort malträtiert, sein sein Fuß sei deshalb kaputt.
Nach zwei Monaten konnte er nach Serbien, dann nach Österreich, in die Schweiz und nach Deutschland fliehen. Bis zur bulgarischen Grenze sei er mit dem Bus gereist, danach hat er sich alleine auf den Weg gemacht. Er sei den Hauptstraßen gefolgt, berichtet er. Ein Handy habe er nicht besessen. Den türkischen Schleusern habe er 3500 Euro bezahlt.
Seine Mutter habe als Ärztin Drogenabhängige behandelt. „Unter den Taliban ist das verboten“, erzählt er. Als Ältester wurde er nach Deutschland geschickt. Er soll seine Familie finanziell unterstützen. Er habe eine Schwester und drei Brüder. Sein 13-jähriger Bruder sei nun in Frankfurt. Ihn wolle er treffen. In Deutschland wolle er als Arzt arbeiten, fügt er zum Schluss hinzu.
„Alle, die hier in den Zelten untergebracht sind, sind unter 18 Jahren“, sagt Gerhard Rasch, Fachbereichsleiter für Jugend und Familie beim Landratsamt Lörrach. In diesem Jahr kamen 1501 Minderjährige in den Landkreis, von Sommer bis Ende 2022 waren es 503. Die Altersfestellung ist schwierig. Manche besitzen keine Papiere, und die Geburt wird nicht immer amtlich festgehalten.
Die Ausländerbehörde und das Jugendamt würden durch gezieltes Fragen die Angaben anhand eines gezielten Fragekatalog überprüfen, sagt Rasch. In Ausnahmefällen werde das Alter medizinisch festgestellt.
Während der Inobhutnahme durch das Jugendamt dürfe kein Minderjähriger abgeschoben werden, fügt Rasch hinzu. Nach der Erstaufnahme werden die Geflüchteten Jugendämtern in der Bundesrepublik zugeteilt. So begleitet Rasch nächste Woche acht Minderjährige nach Bayern.
Für die Inobhutnahme der minderjährigen Geflüchteten sind zwei Aufenthaltszelte und zwei Schlafzelte aufgebaut. Mittlerweile sind dort 84 Minderjährige untergebracht. Ab Dezember sollen sie in der Kreissporthalle in Lörrach Obdach finden.
Zwei bis vier Personen schlafen in den durch Holzlatten abgetrennten Bereiche. Ein Sicherheitsdienst bewacht die Unterkunft. Für die minderjährigen Geflüchteten ist unter anderem Heimleiterin und Sozialarbeiterin Stephanie Gimbel zuständig. „Mädchen haben keine Chance, sie schaffen die Flucht oft nicht“, sagt sie. In Schönau sind einige, wenige Mädchen untergebracht. Sie machen zwei Prozent der Geflüchteten aus.
Oft kämen die Minderjährigen aus bildungsstarken Familien, sagt Gimpel. Man wähle einen jungen Mann aus, verkaufe Land, das Auto oder leiht Geld von Verwandten. Seine Aufgabe sei, die Familie nachholen, fährt Gimbel fort.
Die Jugendlichen kommen aus vielen verschiedenen Kulturen, deshalb sei die Sprachbarriere ein großes Problem, fährt Gimbel fort. Drei Mahlzeiten bekommen die Minderjährigen und es gibt Freizeit- und Sprachangebote. Im Elisabethenkrankenhaus werden sie auf Tuberkulose oder andere ansteckende Krankheiten untersucht. Für Minderjährigen mit schweren Traumata gibt es psychologische Betreuung.