Steinen Zweite Chance für junge Menschen

Gerald Nill

Jubiläum: Fachklinik Haus Weitenau feiert in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen

Das alte Gemäuer in der mittelalterlichen Klosteranlage Weitenau, die 1100 erstmals urkundlich erwähnt wird, atmet Geschichte. In den Mauern erhalten junge Menschen eine zweite Chance, die aufgrund ihres Umfeldes schlechte Startbedingungen für ein sorgenfreies Leben hatten. In Weitenau liegt abseits in einem Seitental die Suchtklinik für Jugendliche, die in diesem Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert.

Von Gerald Nill

Steinen. Wenn Klinikleiter Andreas Kleiner erklärt, dass die Alkohol- oder Drogenkarriere seiner Schützlinge oftmals schon im Alter von zehn Jahren beginnt, wird klar, dass die Patienten keine freie Entscheidung für den Weg in die Drogen-Sackgasse gewählt haben, sondern vom eigenen Umfeld in die Sucht hineingezogen werden. Sucht ist eine Krankheit und die Reha-Einrichtung in Weitenau ist eine Klinik.

„Wir sind die einzige Klinik im Land, die eine eigene Schule und eine Werkstatt unterhält“, erklärt Kleiner, der seit 20 Jahren die Geschicke in Weitenau lenkt. Was vor einem halben Jahrhundert mit dem gesellschaftlichen Problem überhand nehmenden Heroin-Konsums anfangs durch eine Art „learning bei doing“ in Weitenau mit einer Handvoll von drogenabhängigen Patienten begann, mündete vor 15 Jahren in die Fachklinik, die sich auf jüngere Abhängige spezialisiert hat. Träger der Einrichtung ist der baden-württembergische Landesverband für Prävention und Rehabilitation.

Das eigene Leben in den Griff bekommen

Geben junge Menschen ihre Sucht eher zu als ältere Abhängige? „Menschen fällt es immer schwer, für sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen“, weiß Klinikleiter Kleiner aus Erfahrung. Der Weg nach Weitenau führt zumeist über eine Beratungsstelle. Wenn die ambulante Hilfe vor Ort nicht mehr reicht, wenn es Zeit für einen „Break“ ist, wie es Kleiner formuliert, eine Auszeit vom persönlichen Umfeld also, dann ist Weitenau die vielleicht letzte Chance, um das eigene, noch junge Leben in den Griff zu bekommen.

„Die jungen Erwachsenen sind sechs Monate lang hier“, berichtet Kleiner über die Therapiedauer.

Das Handy abgeben ist ein harter Schnitt

Eine lange Zeit. Und sicher auch eine phasenweise harte Zeit, sich auf die Spielregeln im Klinikalltag einzulassen. „Aber die jungen Patienten müssen verschiedene Freiheiten freiwillig aufgeben, um wieder zu sich selbst zu kommen.“

Das eigene Handy anfangs abzugeben, bedeutet für einen jungen Menschen bestimmt einen harten Schnitt. Aber anders sei die Abnabelung von negativen Einflüssen, die zu der schweren Lebenskrise führten, nicht zu schaffen. Besonders für die Jugendlichen, die sich aus einem prekären familiären Umfeld lösen wollten, sei der „Schon- und Schutzraum in Weitenau“ aber ein Rettungsanker, etwa wenn die Eltern schwerst abhängig seien, erklärt der Klinik-Chef.

52 Plätze hat die Fachklinik in Weitenau. 80 Prozent der Patienten seien männlich, 20 Prozent weiblich, was auch daran liege, dass es reine Frauenkliniken gebe.

Drei von vier Patienten kommen aus Baden-Württemberg. Ein paar selbst aus Berlin, wo vielleicht geschaut werde, welche Klinik liegt am weitesten weg. „Aber man muss für eine erfolgreiche Therapie auch innerlich Abstand zum negativen Umfeld schaffen“, stellt Kleiner klar. Das Risiko, in den alten Trott zurück zu fallen, ist omnipräsent.

Reha bedeutet in den Mauern der ehemaligen Klosteranlage auch Schulunterricht oder handwerkliche Ausbildung, um einen Grundstein für die Bewältigung des eigenen Alltags zu legen. „Jugendliche können sich hier eine gesellschaftliche Eintrittskarte holen, indem sie ihren Schulabschluss nachholen.“ Ältere probieren ihre handwerklichen Fähigkeiten im Werkraum oder lassen sich Praktika bei Betrieben in der Region vermitteln, um sich beruflich zu orientieren.

In diesem Zusammenhang dankt der Klinikleiter ausdrücklich den zumeist handwerklichen Klein- und Kleinstbetrieben in der Region, die sich immer wieder bereit erklären, einen Schützling aufzunehmen, sei es nur für ein Schnupper-Praktikum oder manchmal gar für eine ganze Lehrzeit. Da gebe es „beeindruckend viel Herzblut und Engagement“.

66 Beschäftige kümmern sich um die Patienten

66 Beschäftigte der Fachklinik kümmern sich in Weitenau um die jungen Abhängigen. Praktisch rund um die Uhr. Sechs Lehrer, sechs Arbeitstherapeuten, acht Psychotherapeuten, die beiden Sporttherapeuten, 20 pädagogische Kräfte, die Verwaltung und die Hauswirtschaft. Dass sich der Aufwand lohne, steht für Kleiner außer Frage.

Neben der „ethisch-moralischen Pflicht“, sich um die unverschuldet gestrauchelten jungen Menschen zu kümmern, verweist der Klinikchef auf valide Studien, die belegen, dass sich ein eingesetzter Euro in der Therapie sechsfach für die Gesellschaft auszahlt.

Es sei klar, dass nicht jedes Therapieangebot letztlich eine Erfolgsgeschichte werde. Das dürfe auch niemand erwarten. „Aber 60 bis 70 Prozent unserer Patienten beenden die sechsmonatige Therapie abstinent“, beziffert Kleiner die Quote. Diese Klientel habe anschließend in einem Haus in Maulburg, das Adaptionseinrichtung genannt wird, drei Monate lang recht eigenständig die Chance, den nächsten Schritt in eine hoffentlich sorgenfreiere Zukunft anzutreten. Aber Kleiner verurteilt diejenigen nicht, die rückfällig werden und vielleicht ein zweites oder gar drittes Mal zurück nach Weitenau kommen, bis sie den Weg in die Abstinenz hoffentlich packen. Kleiner betont: „Sucht ist eine Krankheit.“ Und er zieht Vergleiche: „Beim dritten Herzinfarkt stellt auch keiner die dritte Behandlung in Frage.“

Aktuell wird das Klinikgelände herausgeputzt. Das große Jubiläum wirft seine Schatten voraus. Die Verwaltung strahlt frisch gestrichen, große Tannen wurden gefällt, 1000 junge Bäume am Hang gepflanzt, ein neuer Schopf aufgebaut - bei vielen Einsätzen waren die Bewohner der Einrichtung mit am Werk und haben gleichzeitig auch an ihrer eigenen Entwicklung gearbeitet.

Weitere Informationen: Das 50-jährige Bestehen der Suchtklinik Weitenau soll am 29. September in der Steinenberghalle in Schlächtenhaus gefeiert werden, sofern es die Pandemie zulässt.

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