Tischtennis „Ich habe große Angst“

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Ievgenia Sozoniuk hat durch das Tischtennisspielen beim ESV Weil etwas Ablenkung von den Geschehnissen in der Ukraine.Fotos (2): Michael Hundt Quelle: Unbekannt

Tischtennisspielerin Ievgeniia Sozoniuk kehrt für die Weihnachtsfeiertage zurück in ihre ukrainische Heimat. Eine Reise ins Ungewisse.

Keiner will sterben. Das ist doch klar. Wozu sind denn dann Kriege da? Herr Präsident, Du bist doch einer von diesen Herren. Du musst das doch wissen. Kannst du mir das ’mal erklären? Keine Mutter will ihre Kinder verlieren. Und keine Frau ihren Mann. Also, warum müssen Soldaten losmarschieren? Um Menschen zu ermorden, mach mir das mal klar. Wozu sind Kriege da?

Das fragten sich Pascal Kravetz und Udo Lindenberg bereits 1981 angesichts des atomaren Wettrüstens in der NATO und im damaligen Warschauer Pakt während des Kalten Krieges.

Der über 40 Jahre alte Song ist angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine aktueller denn je. Und auch Ievgeniia Sozoniuk stellt sich diese Frage jeden Tag. Denn sie stammt aus der Ukraine, ist eigentlich in Kiew zuhause und ist im vergangenen Frühjahr nach Deutschland geflohen – zusammen mit ihrer kleinen Tochter Anna.

Weihnachten wird weltweit als ein Fest des Friedens, der Familie und der Liebe betrachtet. Nur in Russland scheinbar nicht. Denn auch in der Weihnachtszeit lässt der russische Diktator Wladimir Putin unschuldige Menschen töten, sind russische Soldaten beteiligt an Kriegsverbrechen in der Ukraine. Die Hauptstadt Kiew wird derzeit wieder bombardiert. Da mag es auch nur von untergeordneter Rolle sein, dass Weihnachten in der Ukraine erst am 7. Januar gefeiert wird.

„Ich kann eigentlich über das Weihnachtsfest nur sehr wenig erzählen, da ich an Weihnachten immer unterwegs war. Darum habe ich es fast nie gefeiert.“ Auch an die Weihnachtszeit als Kind hat Genia Sozoniuk kaum noch Erinnerungen. „Wir waren eine sehr kleine Familie, nur meine Mama und ich. Ich weiß nur noch, dass es nicht so groß gefeiert wurde wie Silvester.“

Große Geschenke zu Weihnachten sind in der Ukraine nicht üblich. Zwölf Fastenspeisen kommen in der Ukraine traditionell am Heiligabend auf den Tisch - in Anlehnung an die zwölf Apostel. Die wichtigste Speise, Kutja, wird zuerst serviert, ein Brei mit Honig, Rosinen und Nüssen. „Es ist einfach ein kleines Fest, wo man sich miteinander trifft“, beschreibt Sozoniuk das Weihnachtsfest in ihrer Heimat. „Und Kutja wird auch in jeder Region anders zubereitet. Das variiert. Man isst auch einfach nur ein paar Löffel und nicht den ganzen Brei. Er muss einfach da sein und auf dem Tisch stehen.“ Für zahlreiche Familien ist das Essen an Weihnachten auch eine Art Statussymbol. „Der Tisch ist immer voll, auch wenn man nicht alles isst. Aber die Leute wollen zeigen, dass sie etwas zu bieten haben“, beschreibt Sozoniuk einen Brauch, der aber nicht in allen Familien so gelebt wird. „Das ist so viel Arbeit und so viel Aufwand. Das kann ich nicht wirklich verstehen.“ Angesichts der aktuellen Versorgungslage in ihrer Heimat für viele Menschen auch nur schwer sein wird, aufrecht zu erhalten. „Hier in Deutschland machst du einfach den Kühlschrank auf und nimmst dir, was du brauchst.“ In der Ukraine ist man dagegen froh wenn man wieder eine kalte Nacht überlebt hat oder auch tagsüber Schutz gefunden hat, wenn die Russen wieder die ukrainische Bevölkerung drangsaliert haben. „Man weiß auch nicht, wie lange die Lebensmittel ohne ausreichend Kühlung in den Geschäften liegen.“

An Weihnachten in Deutschland, genauer gesagt an die Vorweihnachtszeit, hat sie sich mittlerweile nicht nur gewöhnt, sondern die besondere Stimmung auch lieben gelernt. „Alles leuchtet, alle Häuser sind so schön. Schon im November spürst du, dass bald Weihnachten ist. Das haben wir in der Ukraine nicht.“

Was Sozoniuk besonders an der Vorweihnachtszeit mag, ist die Betriebsamkeit der Menschen. „Jeder macht irgendwas. Viele Häuser sind geschmückt. Das gefällt mir.“ Bei Spaziergängen durch die Winterlandschaft konnte sich die Sportlerin auch etwas ablenken, Kraft und Zuversicht für die Zukunft schöpfen. „Wenn ich dann einen Schneemann sehe oder einen Weihnachtsmann, der an einem Haus hochklettert, dann muss ich lachen und es geht mir wieder etwas besser.“

Und trotz aller schönen und positiven Gedanken hat sie auch Heimweh nach ihrem Mann und ihrem Zuhause. Genau dorthin ist Ievgeniia Sozoniuk mit ihrer Tochter Anna in dieser Woche zurückgereist. Zu groß war die Sehnsucht nach ihrem Ehemann, ihrer Familie und ihren Freunden, die immer noch in Kiew leben. Aber sie reist nicht nur mit ihrer Tochter, sondern auch mit einem unsichtbaren Begleiter, der schwerer ist alles Gepäck: die Angst.

„Wir benutzen alle Verkehrsmittel. Erst mit dem Zug, dann mit dem Flugzeug und am Ende geht es mit Bus und dem Zug nach Hause“, beschreibt Sozoniuk den doch nicht ganz direkten Weg zurück nach Kiew. Vor einem Jahr wäre eine Reise in die ukrainische Hauptstadt zwar auch nicht gerade einfach gewesen, doch zumindest mit Flieger wäre es schneller gegangen. Die Rückreise gestaltet sich wie schon die Flucht im Frühjahr abenteuerlich, ja vielleicht sogar noch riskanter.

Was sie in Kiew erwartet, ist für sie auf jeden Fall eine große Ungewissheit. Immerhin, das eigene Haus vor den Toren Kiews, das bei Kriegsbeginn noch im Bau war, ist mittlerweile fertiggestellt. „Ich habe natürlich Angst, wieder nach Hause zu fahren“, beschreibt die Tischtennisspielerin ihre doch etwas mulmigen Gefühle.

Gefeiert wird das Weihnachtsfest bei der Familie Sozoniuk allerdings nicht am Heiligen Abend oder an den beiden Weihnachtsfeiertagen, sondern nach orthodoxer Sitte erst am 7. Januar. Einen Tag später soll es dann für Mama Genia und Tochter Anna wieder zurück nach Weil gehen.

Auch in Vorkriegszeiten sah das Weihnachtsfest anders aus, als es in Mitteleuropa zelebriert wird. Ost- und Westkirche feiern Weihnachten am 25. Dezember, aber die Mehrzahl der Ostchristen lebt nach dem alten, julianischen Kalender, so dass Weihnachten auf den 7. Januar fällt.

Auch wenn sich Mutter und Tochter in Weil mittlerweile eingelebt haben und Anna in den Kindergarten geht, so ist Kiew immer noch ihre Heimat – wobei Weil für die Sozoniuks in der Zwischenzeit ein zweites Zuhause ist. „Wir haben in Weil ein gutes Leben, haben viele liebe Menschen hier. Ich sage immer, dass die Menschen alles ausmachen. Aber ich vermisse meinen Mann und darum will ich jetzt nach Hause fahren“, beschreibt die 31-Jährige ihre Gefühle. „Ich will ihn einfach wieder sehen.“ Aber die ESV-Spielerin gibt offen zu, dass ihre Gefühle nicht nur mulmig, sondern auch gemischt sind. „Du willst auf der einen Seite nach Hause, aber du weißt auch, wie es war, als du weg mustest. Das will ich eigentlich nicht noch einmal erleben.“ Aber mittlerweile ist ihre Sehnsucht so groß, dass sie den Schritt zurück nach Kiew wagt. „Meine Tochter fragt mich jeden Tag, wann wir wieder zu Papa fahren.“

In einem Kalender haben Mutter und Tochter den Tag angekreuzt, an dem es zumindest für eine kurze Zeit in die alte Heimat gehen wird. Und auch wenn Anna noch nicht einmal vier Jahre alt ist, versucht sie, die Tage zu zählen.

Der Trennungsschmerz ist ein Schicksal, das sie mit vielen anderen Flüchtlingen – nicht nur aus der Ukraine – teilt. Familien werden zerrissen und es ist für viele ungewiss, ob und wann sie ihre Angehörigen wieder sehen werden. Zumindest diese Sorgen hat Sozoniuk nicht. Denn der Kontakt in die eigentliche Heimat ist nie abgebrochen. Immer wieder bekommt sie Nachrichten oder Fotos auf ihr Handy geschickt.

Der Krieg ist mittlerweile zum Alltag in Kiew und in der gesamten Ukraine geworden. „Mein Mann sagt immer wieder, dass ich bei Explosionen keine Angst haben muss. Es ist irgendwie Alltag geworden, dass man keinen Strom hat, dass es in der Wohnung gerade mal nur zwölf Grad hat oder dass man kein Wasser hat.“ Umstände, die sich der wohlgenährte und bequeme Mitteleuropäer nicht vorstellen kann – und sich manche auch nicht vorstellen wollen und daher den Angriffskrieg relativieren.

Dass es nicht immer Strom, Wasser oder Heizmöglichkeiten gibt, bezeichnet Sozoniuk mittlerweile als „Kleinigkeiten“. Viel schwerwiegender sind da die menschlichen Verluste. Doch davon ist Genia Sozoniuk und ihre Familie zum Glück bisher verschont geblieben. Allerdings gab es im Freundeskreis bereits Schwerverletzte und Todesopfer zu beklagen.

Ein großer Rückhalt war in den vergangenen Monaten auch immer wieder die Tischtennis-Familie beim ESV Weil. Denn so war sie in der Lage, das Kriegsgeschehen in ihrer eigentlichen Heimat etwas zu vergessen beziehungsweise in den Hintergrund treten zu lassen. „Ich konnte auch einfach an normale Dinge denken, was ich zum Beispiel kochen will.“

Auch für Tochter Anna ist das Leben in Deutschland mittlerweile Alltag. Sie geht seit einiger Zeit in Weil in einen Kindergarten und fühlt sich dort wohl. „Die Erzieherinnen machen es einfach toll. Ich finde dafür keine richtigen Worte“, freut sich die Mutter darüber, dass ihre kleine Tochter relativ sorgenfrei ihre Zeit verbringt. Wenn Anna davon spricht, dass sie nach Hause will, dann meinte sie mittlerweile die kleine Wohnung in Weil und nicht mehr das Haus in Kiew. „Ich weiß, dass sie sich hier gut fühlt.“

Wenn Genia Sozoniuk im Training beim ESV Weil ist, dann nimmt sie ihre Tochter immer mit. Und wenn sie dann an der Platte steht und mit anderen Spielerinnen oder Spielern trainiert, dann kümmern sich deren Eltern um Anna. „Sie beschäftigen sich dann fast zwei Stunden mit ihr“, erzählt die Mutter glücklich. Und trotzdem ist auch bei Anna die Sehnsucht nach ihrem Papa groß. „Papa fehlt ihr immer wieder. Da kann ich nichts machen, da kann niemand etwas machen.“ Auch das ist einer der Gründe, warum Genia Sozoniuk mit ihrem Kind den langen Weg nach Kiew auf sich genommen hat. Ein Weg ins Ungewisse. Aber sie hofft, dass sie am 8. Januar wieder nach Weil kommt. Noch größer ist die Hoffnung, dass bald Frieden ist.

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