Kaum jemand bezweifelt, dass politisches Kalkül der Erdogan-Regierung hinter dem Vorgehen gegen seinen größten Kontrahenten steckt. Die Absetzung eines mit 4,5 Millionen Stimmen gewählten Politikers und das Vorgehen gegen zahlreiche weitere Menschen in Verbindung mit Korruptions- und Terrorermittlungen ist ein beispielloser Vorgang, der von Beobachtern als Verschärfung autoritärer Tendenzen gewertet wird, sollte der Protest dagegen keine Wirkung zeigen.
Die Inhaftierung Imamoglus steht auch für eine weitere Einschränkung der Wahlen, die als frei, aber nicht als fair gelten.
Wieso wird jetzt gegen Imamoglu vorgegangen?
Während die Regierung die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verteidigt, wird das Vorgehen von vielen als kalkulierten Zug betrachtet. Das Land und besonders Erdogan sieht sich international angesichts der Schlüsselposition des Landes in vielen Konflikten in einer massiv gestärkten Position.
Im Ukraine-Krieg ist Erdogan einer der wenigen Politiker, der sowohl einen guten Draht zu dem russischen als aus zu dem ukrainischen Präsidenten hat. In Syrien ist die Türkei nach dem Sturz von Baschar al-Assad einer der wichtigsten ausländischen Akteure. Zudem kann Ankara seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump auch mit weniger Kritik aus den USA rechnen.
Einige Beobachter sehen das harte Vorgehen gegen die Opposition nun auch als Zeichen für Neuwahlen. Erdogan darf laut geltender Verfassung beim regulären Wahltermin 2028 kein weiteres Mal als Präsidentschaftskandidat antreten - es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Wahlen.
Erdogans Partei und ihre Regierungspartner bräuchten dazu allerdings Stimmen von anderen Parteien - etwa von der prokurdischen Dem-Partei, die am Kopf einer neuen Friedensinitiative zwischen PKK und türkischen Staat steht. Erdogan könne sich mit der Aussicht auf eine Beendung des jahrzehntelangen Konflikts Unterstützung für den Weg zu einer erneuten Kandidatur sichern wollen.