Weil am Rhein Die universelle Kraft der Imagination

Tonio Paßlick
Das postmoderne italienische Theaterstück „Novecento“ ist im Kesselhaus auf die Bühne gebracht worden. Foto: Tonio Paßlick

„Novecento“ ist eine beeindruckende Inszenierung. Aus der Geschichte und der furiosen Dynamik der wechselnden Rollen schälen sich grundsätzliche Fragen über Sehnsucht, Heimatgefühl, Loslassen und Grenzen der Freiheit heraus.

„88 Tasten. Sie sind nicht unendlich. Du bist unendlich. Und in diesen Tasten ist die Musik unendlich, die Du machen kannst!“ Um diesen Kernsatz des Monologs „Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten“ von Alessandro Baricco kreist die Inszenierung des Erwachsenentheaters von Tempus Fugit, die ihr Publikum in den ersten Mai-Tagen an drei nahezu ausverkauften Vorstellungen im Kesselhaus mit einem furiosen Kaleidoskop an Bildern und Metaphern begeisterte.

Regisseurin Sabrina Lössl hat bereits in den vergangenen Inszenierungen ein untrügliches Gespür für die Imaginationskraft einprägsamer Bilder bewiesen. Der Handlungsfaden spinnt sich in den Köpfen der Betrachter weiter, während die Rollen zugunsten eines klaren Erzählstrangs aufgelöst werden.

Ein fast statisches Gruppenbild der 15 Akteure des Theaters zu Beginn, als die Geschichte des Ozeanpianisten von seinen Schiffskollegen erzählt wird, dann entwickelt sich eine turbulente dynamische Folge unterschiedlicher Konstellationen. Der enge Raum der Kesselhaus-Bühne wird geschickt gegliedert in vier Ebenen, in deren Mitte das Klavier wie eine bildgewordene Metapher thront, obwohl es in der Inszenierung nie gespielt wird.

Umkehr auf der Gangway

Während die Schiffsbesatzung im blauen Regenüberzug die Bewegung der Wellen imitiert, wird eine Ebene darüber erzählt und reflektiert. Aus der Geschichte des Ozeanpianisten und der furiosen Dynamik der wechselnden Rollen schälen sich grundsätzliche Fragen über Sehnsucht, Heimatgefühl, Loslassen und Grenzen der Freiheit heraus. Welchem Schicksal fühle ich mich verhaftet? Welchen Einfluss nehme ich darauf? Was bedeutet Heimat für mich? Besonders eindrucksvoll die Szene, als 14 Passagiere und Besatzungsmitglieder gebannt zuschauen, als Novecento plant, in New York sein Schiff endlich zu verlassen und sich auf der Gangway nach schweren inneren Kämpfen zur Umkehr entscheidet.

Wir befinden uns in den 1920er-Jahren, der goldenen Zeit des Jazz. Der Ozeandampfer „Virginian“ ist eine schwimmende Stadt, die zwischen den Küsten von Europa und Amerika hin- und herpendelt. Im Zentrum der Erzählung steht Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento, der im Jahr 1900 auf dem Schiff „Virginian“ als Findelkind in einer Zitronenschachtel entdeckt wird, auf dem Ozean aufwächst und zeitlebens auf dem Schiff bleiben will.

Novecento wird zu einem legendären Pianisten, dessen Musik die Seelen der Passagiere berührt und gleichzeitig das Symbol seiner eigenen Lebensreise ist. Die Töne, die er dem Klavier entlockt erinnern an Jazz oder Ragtime, entstammen aber anderen Sphären. Es ist, als finge er auf den Tasten seines Instruments den unendlichen Reichtum der Welt ein, einer Welt, die er selbst jedoch nie gesehen hat und auch nicht sehen wird.

Novecento scheint die ungewöhnliche Begabung zu haben, in den Augen der Schiffspassagiere lesen zu können und die Atmosphäre der Orte, die sie besucht haben zu imaginieren. Und so verwandeln sich die Geschichten der Passagiere in Musik mit magischer Anziehungskraft. Sabrina Lössl ließ diese Magie bereits während der kurzen Vorbereitungszeit seit Jahresbeginn in den Köpfen der Akteure entstehen, als sie Bilder ihrer Lieblings- und Traumorte imaginieren sollten. Und Techniker André Kulawik unterstrich den dramaturgischen Spannungsbogen durch geschicktes Changieren zwischen dunkler Atmosphäre und suggestiver Leuchtkraft, eingespielter Klaviermusik und stupender Stille.

Beeindruckende Leistung

Eine größere Bühne als im Kesselhaus wäre dieser rasanten Inszenierung zuträglicher gewesen, was aber in Rheinfelden und Lörrach gewährleistet sein wird. Um so beeindruckender ist die Leistung des Schauspiel-Kollektivs, das gleichzeitig mit sechs unterschiedlichen Sprachen brillierte zwischen Spanisch, Französisch, Englisch und – Alemannisch. Und damit die universelle Kraft der Imagination verdeutlichte.

Am Ende geht der Besucher fast benommen und versonnen zugleich. In der Wucht der Bilder hallen Sätze nach: „Er spielte, damit die Menschen nicht merkten wie die Zeit verging. Damit sie tanzten – denn wer tanzt, stirbt nicht und fühlt sich unendlich…“ Am Ende bleibt aber die Einsicht: „Man spielte sein Glück auf einer Klaviatur, die nicht unendlich war…“

Weitere Aufführungen: Mittwoch, 7.Mai, ab 19 Uhr im Bürgersaal Rheinfelden, Freitag und Samstag, 30. und 31. Mai, jeweils ab 19.30 Uhr im Theater Tempus Fugit in Lörrach

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