Weil am Rhein Hamster-Zeiten und „Liebesgaben“

Johannes Foege

Serie: Teil 3 zum Kriegsende im Spiegel der Weiler Chroniken / Zeitzeugenaussage ab dem 8. Mai 1945 / Frage nach der Schuld

Weil am Rhein - „Weil am Rhein nach Kriegsende unter französischer Besatzung und Verwaltung“: Im dritten Teil unserer Serie wertet Gastautor Johannes Foege die Schuldfrage und Ereignisse von der Besatzung in Weil am Rhein ab dem 8. Mai 1945 dokumentarisch aus.

An der Not, die dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland folgte, musste jemand schuld sein. Warum fiel den Deutschen aber die Schuldsuche so schwer? Sie waren unterschiedlich betroffen: Viele wussten, dass sie sich intensiv für das Naziregime engagiert hatten, einige fühlten, zu wenig gegen das Naziregime unternommen zu haben und nicht wenige waren gleichgültig gewesen, und sahen sich nicht verantwortlich für das Desaster. Schuldgefühle zu verdrängen wurde erleichtert durch die Not des Alltags und durch die Ausweglosigkeit, das eigene Fehlverhalten zu erklären. So war es einfach, den Besatzern, wie sie hassvoll genannt wurden, die Schuld an der Not zuzuweisen.

Die Alliierten gingen offenbar nicht von einer Kollektivschuld der Deutschen wie im Ersten Weltkrieg aus. Sie suchten nach den Verantwortlichen, nach den Kriegsverbrechern unter den Nazis, sie suchten nach denen, die das System am Laufen hielten oder aktiv unterstützten.

Die von ihnen auf den Weg gebrachte „Entnazifizierung“ und alle hier zutage tretenden menschlichen Eigenschaften wie Lügen, Leugnen oder Denunzieren, war eine mühevolle weitgehend vergebliche Aktion. Dahinter stand das Ziel, in Deutschland wieder eine Demokratie entstehen zu lassen, die nicht von innen her zerstört werden konnte. Die psychologischen Fehler der Schuldzuweisung wie im „Versailler Vertrag“ von 1919 sollten nicht wiederholt werden. Trotzdem wurde ihnen weitgehend die Schuld am Elend in Deutschland nach dem Krieg zugewiesen.

Ein Bewusstseinswandel der Deutschen wurde erst mit der Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 sichtbar, der mit seiner epochalen Rede an diesem Tag und die deutsche Kapitulation als „Tag der Befreiung“ vom nationalsozialistischen Unrechtsstaat im kollektiven Gedächtnis verankern wollte.

Am 8. Mai 1945 hatte das deutsche Militär gegenüber den alliierten Streitkräften kapituliert. Der Führerstaat, in den sich die Weimarer Republik entwickelt hatte, war zusammengebrochen. Die tatsächliche Staatsgewalt lag bei den Siegern.

Das von französischen Truppen eingenommene Baden wurde zur Besatzungszone. Die Strukturen auf Orts- und Kreisebene wurden neu geordnet. Personen, die als „unbelastet“ galten, wurden Funktionsträger, wobei oft auf diejenigen zurückgegriffen wurde, die vor 1933 bereits Ämter bekleidet hatten. Der Neuaufbau war eine Frage des Überlebens, des Kampfes gegen Hunger und ungezügelter Gewalt.

Auch hier zeichnet Peter Hartmann, der Bürgermeister in Weil ab 1946, in seinen Notizen ein düsteres Bild. Die französischen Besatzungstruppen überließen es dem am 8. Mai 1945 eingesetzten Bürgermeister Kraus, die örtlichen Verhältnisse zu regeln und Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine schwere Aufgabe angesichts der Tatsache, dass ihm kaum Exekutivgewalt zur Verfügung stand.

Das Dritte Reich war im Chaos untergegangen. Alte Nazis, Soldaten, die nicht in Kriegsgefangenschaft geraten wollten, Plünderungen und persönliche Übergriffe von französischen Soldaten und kriminellen Elementen bestimmten den Alltag.

Hartmann notierte:„Mittwoch, 9. Mai 1945: Keine besonderen Vorkommnisse. 150 Liter Wein bei Röschard Robert geholt. Plünderungen in Friedlingen bei Dr. Focke. Mit Autos und Traktoren kommt eine Kolonne von Belfort, die in der Bühlstraße plündert, in erster Linie die Wohnung von Fritz Hager restlos ausräumt. Die Plünderer aus dem Elsass wollten eigentlich zu Gottfried Hager, um sich zu rächen wegen einiger Vorkommnisse im Dritten Reich. Herr Hager hat es aber geschickt verstanden, nicht seine Wohnung, sondern die seines Neffen Fritz Hager zu zeigen, dem man alles restlos weggenommen hat.

Donnerstag, 10. Mai 1945: Ein schwarzer Tag für die wir uns eingesetzt haben, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Verhaftung der schwarz sich in Weil aufgehaltenen Soldaten. Alle bekannten ehemaligen Nationalsozialisten werden verhört.

Freitag, 11. Mai 1945: Fünf Soldaten, die sich seit der Besatzung in Weil bei Familie Ludin, Gründler, Mutter und Junker, sowie Frau Lechner aufhielten, wurden verhaftet, weil Waffen gefunden wurden.

Samstag, 12. Mai 1945: Maier Hermann, Kempf Siedlung und Schranz in der Angelegenheit Stahlberger verhaftet, der als Werwolfführer bezeichnet wurde und Spionage getrieben haben soll.

Sonntag 13. Mai 1945: An diesem Tag gestehen Frau Stahlberger und Frau Maier, dass ihre Männer von Fischer Kurt aufgehetzt und zum Werwolf gezwungen worden sind.

Dienstag, 15. Mai 1945: Am Vormittag findet eine Sitzung statt unter französischer Regie wegen Säuberung der Rathausbeamten. Die Wasserleitung nach Friedlingen wird wieder instandgesetzt.

Dienstag, 22. Mai 1945: Man konnte eine allgemeine Lockerung verspüren und ein Entgegenkommen feststellen. Bis Ende Mai ereignete sich nichts Besonderes, auch darf man sagen, die Besatzungstruppen haben sich in dieser Zeit sehr anständig benommen.

In der Zeit vom 1. bis 12. Juni 1945 ereignete sich ebenfalls nichts von Bedeutung. Nur der innere Feind, die sogenannten Denunzianten, sind schwer am Werk. Der Chronist hat verschiedene Ohrfeigen ausgeteilt am 12. Juni 1945, darunter auch einige Frauen, die sich fortwährend mit farbigen Truppen abgeben und dabei selbstverständlich denunzieren.

Am 14. Juni 1945: Kommandant Doussard und Stellvertreter Jorrot stellen sich vor. Bis 7. Juli 1945 war auch hier das Verhältnis einigermaßen zufriedenstellend, allerdings verlangten die Truppen vielmehr Hühner, Fleisch, Mehl, Wein, wie die vorhergehenden Truppen.

Am 9. Juli 1945 wurde auch dieser Kommandant abgelöst und oh’ Schreck, es kamen Marokkaner.

„Bis zum 24. Oktober 1945 erlebte die Bevölkerung sehr viel Schreckliches. Vergewaltigungen fanden nicht in der Zahl statt, wie angenommen, denn der Chronist hat selbst einige Fälle aufgeklärt, die mit Vergewaltigung nicht mehr zu tun hatten. In dieser Zeit wurde derart viel gestohlen und bei Abzug am 24. Oktober 1945 wurden mehrere Waggons mit Möbeln, Radioapparaten, Öfen, fast sämtliche Gartenstühle, Tische und 20 Betten aus dem Hotel Hermann mitgenommen.

Bis zum 20. Februar 1946 gingen dem Chronisten die Aufzeichnungen verloren, das heißt sie wurden mir aus meiner Schublade entwendet. Am 15. Februar 1946 kamen auch die ersten französischen Zollbeamten.

Am 26. März 1946 zog die Gendarmerie in die Bühlstraße (Villa Hinsken) ein. Mit dem heutigen Tag nimmt die Zivilverwaltung ihren Dienst auf.“

In den folgenden Monaten kämpft die eingesetzte Verwaltung gegen die wirtschaftliche Not. Im Mai 1946 wurde die gesamte Kirschenernte beschlagnahmt. Eine Kommission, zusammengesetzt aus Weiler Landwirten schätzte sie auf 250 Zentner (immerhin 12 500 Kilogramm). Sie war laut einer amtlichen Kontrolle um 200 Prozent zu niedrig geschätzt.

Unter dem 30. Mai 1946 notiert Hartmann: „Die Notlage der Stadt Weil am Rhein in punkto Kartoffeln wird jeden Tag katastrophaler. Die Stadtverwaltung sieht sich gezwungen, rechnungstragend der großen Not, Dinge zu unternehmen, die wohl von der Militärregierung nicht erlaubt sind, aber nach dem alten Sprichwort: „Not kennt kein Gebot“ zu handeln.

„Dank dem großen Entgegenkommen der Firmen Färberei & Appretur Schusterinsel und Robert Schwarzenbach und Co, die uns Waren zur Verfügung stellten, um Kartoffeln einzutauschen, war dies möglich. Obwohl das Einkaufen von Kartoffeln von der Militärregierung streng verboten war, mussten wir jedoch der Not gehorchend die äußerst gefährliche Fahrt (in die Gegend Pfullendorf, Tuttlingen und Sigmaringen) unternehmen.

In der 3. Juni-Woche gibt es für uns wieder neue Probleme betreffend Wohnungsbeschaffung. Die neu hinzugekommenen Wissenschaftler, sowie neu angekommene Zollbeamte und die Gendarmerie der französischen Besatzungstruppen müssen restlos untergebracht werden. Möbel, Wäsche, Geschirr, Radios, Nähmaschinen etc. müssen aus den Wohnungen der belasteten PG (Parteigenossen) abgeholt werden. Oft trifft es dabei auch unschuldige Menschen, weil gerade dieses oder jenes Haus den Begehrern ins Auge fällt.“

Zur Vorbereitung der Gemeinderatswahlen, die am 15. September 1946 stattfanden, wurde eine Wahlkommission in Weil am Rhein eingesetzt, die überprüfte, ob die von der Militär-Regierung ausgeschalteten Personen (nicht Wahlberechtigte) zu Recht oder zu Unrecht gestrichen worden sind. Sie räumte in vielen Fällen Personen das Wahlrecht wieder ein, von denen sie überzeugt war, dass sie in keiner Weise politisch belastet sind. Die Spitzen der Gemeindeverwaltungen und die Lehrer galten als „belastet“. Diese Gesinnungs-Durchforstung zog sich Jahre hin. Listen von Mitgliedern der NSDAP und ihrer Unterorganisationen wurden zusammengestellt. Sie bieten aber bestenfalls Anhaltspunkte.

Die späteren Akten für Ötlingen wiesen 34, für Märkt 52 und für Weil am Rhein 816 NSDAP-Parteigenossen aus. Bei der SS seien in Weil am Rhein 30, in Ötlingen 8, in Märkt 10 Personen aktiv gewesen. Für Weil am Rhein sind 24 Gestapo-Leute ausgewiesen. Einzelheiten aus dieser Zeit sind nicht aufgearbeitet. Hierauf weist Sepaintner in seiner Darstellung „Weil am Rhein“, der überarbeiteten Chronik, hin.

Hartmann schreibt im Juni 1946: „So verlief der Juni 1946 mit harter Arbeit und vielen Sorgen, die wir in den Monat Juli ebenfalls wieder mit hinein nahmen.

In der 1. Juli-Woche schon beginnt die Brotknappheit sich katastrophal auszuwirken. Doch auch hier können wir wieder sagen: „Wenn die Not am Größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten“; in Form von Schweizerspenden. In der zweiten Juliwoche werden unsere Kinder wieder reichlich beschenkt mit Büchsenmilch, Suppenkonserven, Büchsengemüse, etc. Am 20. Juli 1946 kommen wir zum ersten Mal in den Genuss von neuen Kartoffeln, ebenfalls eine Schweizerspende. Die Freude, dass nun wieder Brot und Kartoffeln vorhanden sind und die Schülerspeisung floriert, wird uns aber recht bald genommen, in dem am 29. Juli 1946 abermals neue Truppen ankommen in Form von französischen Gendarmerie. Das Hotel Central wird restlos in Beschlagnahme genommen.

Am 28. August 1946 unternahmen wir wieder eine gefährliche Fahrt in den Kreis Sigmaringen, um für unsere Not leidende Bevölkerung zu hamstern. Während des Einkaufens wurden wir von der Gendarmerie festgenommen, die Wagen mit Inhalt beschlagnahmt und nach Sigmaringen verbracht. Nach zweistündigem Verhör im Landratsamt Sigmaringen wurden wir dann freigelassen, durften auch die zirka 80 Zentner eingekauften Kartoffeln behalten, wurden aber per Schub in das badische Gebiet überführt.“

Am 15. September 1946 fand die Gemeinderatswahl statt. Die Wahlen brachten folgendes Ergebnis: Dr. Ludwig Keller, Herbert Pacha, Friedrich Resin und Otto Raimann  Christlich-Soziale Volkspartei CSVP, Rudolf Kraus, Peter Hartmann und Arthur Grab  Demokratische Partei DP, Josef Kinzinger und Karl Stubanus von der SPD und Hermann Huck KPD. Am Sonntag danach traten die gewählten Gemeinderäte zusammen und wählten mit sieben von zehn Stimmen Peter Hartmann zum Bürgermeister. Herbert Pacha und Friedrich Resin wurden Erster bzw. Zweiter Beigeordneter. Dere bisherige Bürgermeister Rudolf Kraus wurde zum Ehrenbürger ernannt (Quelle: Alber Vögtlin, 1946: Ein neuer Anfang – Weil am Rhein in der Nachkriegszeit in Willa, Jahrbuch für Weil am Rhein 1986, Hrsg Stadtverwaltung Weil am Rhein).   

Zehn Jahre nach der Weizsäcker-Rede vom 18. Mai 1985 war die Zeit reif, auch in Weil am Rhein eine Gedenkveranstaltung in Form einer Bürgerversammlung unter dem Motto „Vom Krieg zum Frieden, von Hass zu Versöhnung, von der Diktatur zur Demokratie – wie weit sind wir auf diesem Weg?“ durchzuführen.

Unter Moderation des Autors brachten die Podiumsgäste Hilde Ziegler, Schauspielerin und Autorin, Hubert Bernnat, Historiker aus Lörrach-Tüllingen, Ruedi Brassel, Historiker der Forschungsstelle Baselbieter Geschichte, und Charles Müller, ehemaliger Bürgermeister von Hüningen und Ehrenbürger der Stadt Weil am Rhein, ihre Erfahrungen und Bewertungen ein. In dieser wurde die Besonderheit der trinationalen Grenzlage während und nach dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Außerdem machte die Moderation deutlich, weiter an der Verständigung der Nationen im Dreiländereck zu arbeiten.

Die weitere Aufarbeitung der trinationalen Geschichte, der unterschiedlichen Sichtweisen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz steht noch aus. Eine Aufgabe, der sich der Trinationaler Eurodistrikt Basel stellen könnte.

Die ersten beiden Teile der Serie finden Sie hier und hier

  Damit endet die Serie.

Der Gastautor Johannes Foege ist ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für deutsche Rechtsgeschichte der Universität Freiburg.

Umfrage

Heizung

Der Ausbau des Fernwärmenetzes im Landkreis Lörrach nimmt Fahrt auf. Würden Sie, falls möglich, Ihr Haus an das Netz anschließen lassen?

Ergebnis anzeigen
loading