Aus Palmers Sicht war es ein schwerer Fehler von Angela Merkel, im Zuge der Grenzöffnung 2015 „eine Politik, die aus der Not geboren wurde, zum moralischen Imperativ zu erklären“. Und gleichzeitig die Staatlichkeit Deutschlands „völlig preiszugeben“.
Die Folgen der zahlenmäßig anschwellenden Zuwanderung hätten gezeigt, dass es dem deutschen Staatswesen „in der Krise“ an der nötigen Flexibilität mangelt. Boris Palmer liest Passagen aus seinem Buch vor, aus denen der aufreibende Kampf eines lokal verantwortlichen Politikers gegen die Bürokratie-Krake deutlich wird. So sei etwa der zügige Bau von Unterkünften für Flüchtlinge – Tübingen hat bisher 1300 Menschen aufgenommen – unter anderem aufgrund der Nähe zu einem Tennisplatz ausgebremst worden.
Nicht nur Palmer, auch die Zuhörer in Zell wundern sich, dass Asylbewerbern, die vor Bombendetonationen geflohen sind, die typischen Tennisballgeräusche nicht zumutbar sein sollen. Es nerve massiv, „wenn die in Berlin sagen, wir schaffen das, und gleichzeitig keinen Millimeter von ihrem Bürokratieirrsinn abweichen“. Das mag man dem OB gerne glauben.
Auch sonst hat Palmer einige Probleme identifiziert, die seiner Ansicht nach viel zu oft einfach totgeschwiegen werden. Etwa, dass der massive Zuzug junger Männer aus arabischen Ländern, denen beispielsweise der Emanzipationsgedanke bisher relativ fremd war, das Land verändere. Und er weist auf – bewusste oder unbewusste – Fehlinterpretationen hin. Etwa die, dass die Flüchtlingshilfe in der Lage sei, das demografische Problem Deutschlands zu lösen.
Es gibt Grenzen der Belastbarkeit
Dennoch: Den extremen Flüchtlingszuzug im Jahr 2015 habe das Land mit viel Engagement gestemmt, räumt Palmer ein: „Panikmache ist nicht angebracht, was die Flüchtlinge uns kosten, ist bezahlbar.“ Aber er bleibt bei seiner Kernthese, dass es „Grenzen der Belastbarkeit“ gibt; und die setzt er bei 200 000 Flüchtlingen pro Jahr an.
Für die Zukunft plädiert Boris Palmer für einen „Spurwechsel“; gemeint ist die Option, vom Asylrecht ins Einwanderungsrecht zu wechseln, für den Fall, dass eine gelungene Integration vorliegt. Grundsätzlich werde – zweitrangig, wie sich die nächste Regierung zusammensetzt – ein Einwanderungsgesetz kommen. Die Konservativen würden sich langsam aber sicher von ihrem Deutschlandbild verabschieden müssen. „Unser Land wird sich ändern, es wird bunter und pluralistischer werden“, so Palmers Schlusswort – in klassischer Grünen-Manier.