Zell im Wiesental Probleme lösen – ohne Panikmache

Markgräfler Tagblatt
Meinungsfreudig wie man ihn kennt, präsentierte der Grünen-Politiker Boris Palmer in Zell sein Buch zur Flüchtlingsthematik. Foto: Peter Schwendele Foto: Markgräfler Tagblatt

Vortrag: Grünen-Politiker Boris Palmer stellt in Zell sein Buch „Wir können nicht allen helfen“ vor

Boris Palmer ist von Natur aus Realist – Ober-Realo, um es im Grünen-Sprachjargon zu sagen – und von moralisch überhöhten Debatten bei der Flüchtlingsthematik hält er nichts. Weswegen er auch schon mal aus der eigenen Partei den guten Rat zu hören kriegt, „endlich mal die Fresse zu halten“. Das aber kann er nicht – und so präsentiert er am Freitagabend auch im Zeller Rathaussaal vor mehr als hundert interessierten Zuhören die Thesen seines Buchs „Wir können nicht allen helfen“.

Von Peter Schwendele

Zell. Bevor der Oberbürgermeister von Tübingen – Markenzeichen: E-Bike als Dienstfahrzeug – leicht verspätet von einem Termin aus Bern in Zell ankommt, hat Sabine Ging, Vorsitzende des Grünen-Ortsvereins Oberes Wiesental, die Zuhörer über die Erfolge der grünen Stadtpolitik Palmers in Kenntnis gesetzt. Und sie bringt den 45-jährigen Politiker, der beim Eintritt in den Saal die letzten Sätze noch mithören kann, zum Schmunzeln: „Das ist das erste Mal, dass ich mein Buch vorstelle und eine Grüne spricht am Anfang freundlich über mich.“

Ja, der streitbare Tübinger OB hat es nicht leicht in letzter Zeit, vor allem mit seiner eigenen Partei und deren bildungsbürgerlichem Umfeld. Nicht selten werde ihm geraten, doch bitteschön in die AfD einzutreten. Auch Nazi-Gedankengut sei ihm bisweilen schon unterstellt worden, berichtet Palmer.

Viele verweigern sich einfach der Diskussion

Dieser holzschnittartige Umgang mit seiner Person und mit der aus seiner Sicht absolut notwendigen gesellschaftlichen Debatte über die Flüchtlingsthematik ärgert Palmer. Das Denken in engsten Schubladenkategorien stellt für ihn ein Riesenproblem dar. Zwar sei völlig klar, „dass die AfD nur Unheil anrichtet“, doch dürfe man deshalb noch lange nicht alle zur AfD abschieben, die etwas Kritisches zur Flüchtlingsfrage sagen.

Palmer findet es „verstörend“, dass sich viele Menschen der Diskussion einfach verweigern: „Manchen reicht schon der Titel meines Buchs, um zu wissen, dass es nichts taugt.“ Dabei handle es sich bei dem Satz „Wir können nicht allen helfen“ um nicht mehr und nicht weniger als eine pure Tatsachenfeststellung.

Boris Palmer will Abstand gewinnen vom Schwingen der Moralkeule in der Flüchtlingsdebatte, nicht unbedingt, weil sie ihn selbst trifft – das kann er als einer, der durchaus Lust am Streiten hat, aushalten –, sondern weil es ihm um die Kunst des Machbaren geht. „Ich will Probleme lösen, da sind mir ideologische Scharmützel relativ egal“, sagt er an einer Stelle seines Vortrags.

Aus Palmers Sicht war es ein schwerer Fehler von Angela Merkel, im Zuge der Grenzöffnung 2015 „eine Politik, die aus der Not geboren wurde, zum moralischen Imperativ zu erklären“. Und gleichzeitig die Staatlichkeit Deutschlands „völlig preiszugeben“.

Die Folgen der zahlenmäßig anschwellenden Zuwanderung hätten gezeigt, dass es dem deutschen Staatswesen „in der Krise“ an der nötigen Flexibilität mangelt. Boris Palmer liest Passagen aus seinem Buch vor, aus denen der aufreibende Kampf eines lokal verantwortlichen Politikers gegen die Bürokratie-Krake deutlich wird. So sei etwa der zügige Bau von Unterkünften für Flüchtlinge – Tübingen hat bisher 1300 Menschen aufgenommen – unter anderem aufgrund der Nähe zu einem Tennisplatz ausgebremst worden.

Nicht nur Palmer, auch die Zuhörer in Zell wundern sich, dass Asylbewerbern, die vor Bombendetonationen geflohen sind, die typischen Tennisballgeräusche nicht zumutbar sein sollen. Es nerve massiv, „wenn die in Berlin sagen, wir schaffen das, und gleichzeitig keinen Millimeter von ihrem Bürokratieirrsinn abweichen“. Das mag man dem OB gerne glauben.

Auch sonst hat Palmer einige Probleme identifiziert, die seiner Ansicht nach viel zu oft einfach totgeschwiegen werden. Etwa, dass der massive Zuzug junger Männer aus arabischen Ländern, denen beispielsweise der Emanzipationsgedanke bisher relativ fremd war, das Land verändere. Und er weist auf – bewusste oder unbewusste – Fehlinterpretationen hin. Etwa die, dass die Flüchtlingshilfe in der Lage sei, das demografische Problem Deutschlands zu lösen.

Es gibt Grenzen der Belastbarkeit

Dennoch: Den extremen Flüchtlingszuzug im Jahr 2015 habe das Land mit viel Engagement gestemmt, räumt Palmer ein: „Panikmache ist nicht angebracht, was die Flüchtlinge uns kosten, ist bezahlbar.“ Aber er bleibt bei seiner Kernthese, dass es „Grenzen der Belastbarkeit“ gibt; und die setzt er bei 200 000 Flüchtlingen pro Jahr an.

Für die Zukunft plädiert Boris Palmer für einen „Spurwechsel“; gemeint ist die Option, vom Asylrecht ins Einwanderungsrecht zu wechseln, für den Fall, dass eine gelungene Integration vorliegt. Grundsätzlich werde – zweitrangig, wie sich die nächste Regierung zusammensetzt – ein Einwanderungsgesetz kommen. Die Konservativen würden sich langsam aber sicher von ihrem Deutschlandbild verabschieden müssen. „Unser Land wird sich ändern, es wird bunter und pluralistischer werden“, so Palmers Schlusswort – in klassischer Grünen-Manier.

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