Von Jürgen Scharf Basel. Sie hat schon über Berlin geschrieben, jetzt über Straßburg: Barbara Honigmann hat die Chronik ihrer Straße verfasst. Die Berlinerin wohnt schon lange in Straßburg, in der Rue Edel, weit weg vom Zentrum. Eine Straße, in der es keinen Blick auf die Kathedrale oder das Europaparlament gibt, keinen Park, nicht mal einen Baum. Dafür Sozialbauten. Ein Viertel mit einem Vielvölkergemisch. Die erklärte „Stadtmenschin“ ist aber nie in eine „bessere Gegend“ gezogen. Barbara Honigmann begegnet der ganzen Welt im Kleinen, wenn sie von ihrem grün bepflanzten Balkon auf die Straße schaut: Türken, Kurden, Asiaten, Araber, Juden, Inder, Schwarze. Alle leben in dieser gemischten Gegend, die aber kein Banlieu und noch kein richtiges Ghetto ist, sagt sie bei der Autorenlesung im Literaturhaus Basel, wo sie ihr autobiografisch geprägtes Buch vorstellte. Mit diesem „Kleinod“ (Intendantin Katrin Eckert), eigentlich ein unspektakuläres Buch, in dem es „nur um eine Straße geht“, sind die Literaturveranstaltungen auf der Zielgeraden Richtung Saisonende angekommen. Allein die Erzählkunst von Honigmann schafft es, dass sich in dieser „Chronik meiner Straße“ die ganze multikulturelle Gesellschaft spiegelt. Die Geschichten sind kurz, ineinander geflochten, eine Kompositionsarbeit, gesteht sie. Typische Honigmann-Erzählungen eben, nicht episch, sondern verdichtet, rhythmisiert, fast wie Lyrik, aber auch sehr szenisch „gesehen“ (kein Wunder, die Kleist-Preisträgerin kommt ja vom Theater). Sie berichtet von Schicksalen, vom Alltag, nachbarschaftlichem Zusammenleben, von Brasserien, Bäckereien, aber auch vom Dealer, der in einer „Entente“ neben der Kinderkrippe lebt: Milieustudien, beobachtet und festgehalten mit einem nie ideologisch verengten Blick. Der „Meisterin der Autofiktion“ – Honigmann lässt sich gerne selbst so nennen – gelingt das autobiografische Schreiben als Erfindung. Das trifft ihr künstlerisches Anliegen zwischen Tagebuch und Roman genauestens. Es gibt einiges zum Schmunzeln, aber auch Nachdenkliches über reale Begebenheiten in ihrer Straße, etwa die Leidensgeschichte der deportierten elsässischen Juden. In dieser Straße wohnt man eigentlich nur am Anfang. „Die Rue Edel ist die Straße des Anfangs“, sagt sie. Die Straße trist, die Gegend öde. Honigmann schreibt die Geschichte des anderen Frankreichs. Sie sitzt am Schreibtisch, und draußen fließt die Straße. Und sie könnte „noch mehrere Bände darüber schreiben“. In diesem Haus hat sie ihren 40., 50. und sogar den 60. Geburtstag erlebt. Immerhin, der Botanische Garten ist nicht weit, auch die Universität, also eine lebendige und nicht sterile Straße, voll Bewegung. Zurzeit erlebt die Rue Edel sogar eine Periode des Aufschwungs, hat die Autorin von ihrem Sonnenplätzchen auf dem Balkon beobachtet. Also ist diese „Straße des Anfangs“ mehr eine Straße des Ankommens und Hängenbleibens" Auch ohne Savoir vivre, ohne Chic und Charme eben doch eine „edle“ Straße…