Basel Labyrinth mit imaginären Landkarten

Die Oberbadische
Bild-Ereignisse: Die großen Décollagen im letzten Saal Foto: Dorothee Philipp Foto: Die Oberbadische

Ausstellung zu einer Gruppierung des „Neuen Realismus“: Museum Tinguely zeigt „Poesie der Großstadt“

Von Dorothee Philipp

Basel. Am 27. Oktober sind es genau 54 Jahre, seit das erste Manifest des Neuen Realismus unterzeichnet wurde: Der Künstlergruppe um den Kunstkritiker Pierre Restany, die sich um eine „neue Annäherung der Wahrnehmungsfähigkeit an das Reale“ bemühte, gehörte auch Jean Tinguely an. Das Museum Tinguely in Basel zeigt jetzt mit „Poesie der Großstadt“ eine Ausstellung zu einer Gruppierung des „Neuen Realismus“, die außerhalb von Frankreich bisher nur am Rande wahrgenommen wurde, die Affichisten.

Die Ausstellung konzentriert sich dabei auf fünf Namen: Jacques de la Villeglé, Raymond Hains, Francois Dufrêne, Mimmo Rotella und Wolf Vostell. Ihr Ausgangsmaterial: Plakatwände, die vom Überkleben und wieder Abreißen unzähliger Einzelplakate zu imaginären Landkarten mit sich ständig verändernden Konturen geworden sind. Diese dicken Schichten, an denen Passanten und der Zahn der Zeit ihre Spuren hinterlassen haben, ablösen, die Fragmente weiter verarbeiten, übermalen, dem Wetter aussetzen, mit der Rückseite nach vorne aufkleben – das reizte die erste Generation dieser Künstlergruppe, allen voran das Tandem Villeglé und Hains, schon in den ausgehenden 1940er Jahren. Sie ist auch die Geburtsstunde einer neuen Ästhetik.

„Décollage“ nennt sich diese Technik des Ablösens und Neuordnens von Elementen, Hains und Villeglé beließen es nicht bei den Plakaten, sondern experimentierten mit einer Kamera mit geriffelter Linse, deren Bilder sie mit Tusche abmalten und aus den Sequenzen Animationsfilme herstellten. Das Filmprojekt „Penelope“ nahm die beiden Künstler mehrere Jahre in Anspruch und füllt in der Ausstellung ein ganzes Kabinett.

Programmatisch für die Ausstellung ist das 58 mal 256 Zentimeter große „Ach Alma Manetro“ aus dem Jahr 1949 gleich am Eingang. Der Titel setzt sich aus Silben zusammen, die in der Collage noch lesbar sind. Villeglé und Hains haben es gemeinsam geschaffen. Das extreme Format erinnere an den Teppich von Bayeux, hatte Hains dazu festgestellt. Diese Leihgabe stammt vom Pariser Centre Pompidou. Hinzu kommen akustische Collagen aus Wörtern und Silben, rhythmisch verfremdet, aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und neu zusammengesetzt. Sie beschallen die Besucher aus kleinen Lautsprechern.

Eine Besonderheit der Ausstellung ist ihre Raumaufteilung: Der Besucher flaniert durch ein Labyrinth von Durchgängen, kleinen und großen Räumen, ähnlich den Straßen und Plätzen einer Stadt, die für die Kunst der Affichisten die große Kulisse bot.

Zur Vorbesichtigung der Medien war am Dienstag der 88-jährige Villeglé persönlich anwesend. Ein zierlicher alter Mann mit wachen, freundlichen Augen, der erzählte, die Aktionen damals seien eine „affaire collective“, eine gemeinschaftliche Arbeit gewesen, an der neben den Künstlern auch Passanten und der Zufall beteiligt seien.

Die Kunst der Affichisten ist eine Kunst der Vergangenheit: nirgends mehr feiern heute Wahlkämpfe, Filmplakate, Werbung, politische Pamphlete und Ankündigungen von Veranstaltungen solche grandiosen Zusammenkünfte wie an den Pariser Plakatwänden der 1940er bis 1960er Jahre. So begleitet die Ausstellung auch ein Hauch von Nostalgie. Um die lichtempfindlichen Exponate mit ihrem billigen Plakatpapier und Leimspuren vor weiterem Zerfall zu schützen, ist das Licht in den Ausstellungsräumen gedimmt. Die Werke der Affichisten sind nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet – Lettrismus, Prozess, Pop, Politik sind einige der Stichworte.

Ein besonderes Highlight ist der letzte Saal „Abstraktion“ mit seinen unerhörten Großformaten, die hier geradezu als Bild-Ereignisse auftreten, wie es Museumsdirektor Roland Wetzel formulierte. Die Ausstellung wird begleitet von einem reichhaltigen Rahmenprogramm, zu dem zwei Klavierkonzerte gehören, in denen Moritz Ernst musikalische Collagen unter anderem von Ligeti, John Cage und Pierre Boulez spielen wird. u  „Poesie der Großstadt“, bis 11. Januar; Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, mehr Infos unter www.tinguely.ch

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