Von Jürgen Scharf Basel. Tewje" Ist das nicht der Milchmann aus „Anatevka“" Richtig! Das neue Handlungsballett von Richard Wherlock im Theater Basel greift auf das Erfolgsmusical „Fiddler on the Roof“ („Wenn ich einmal reich wär“) und auf Situationen und Episoden aus dem jiddischen Schicksalsroman von Scholem Alejchem zurück. Der „Anatevka“-Stoff zieht. Der neue Intendant und sein Ballettchef wissen, wie man das Publikum ins Theater lockt. Es ist die tragikomische Geschichte von Tewje, dem geplagten Vater, der seine flügge gewordenen Mädels an den Mann bringen will. Bei der Suche nach heiratsfähigen Männern hilft die typische traditionelle Heiratsvermittlerin, was für Komik auf der Bühne sorgt. Wherlock findet ausdrucksstarke Bilder für Freude, Leid, Liebe, Bräuche und Sitten, aber auch für die Judenpogrome und die Umbrüche im Großen wie im Kleinen, für das Schicksal der Dorfbewohner aus Anatevka, einer Welt, die im Untergang begriffen ist. Gleich im ersten Akt fügt er noch eine Szene hinzu, in der Flüchtlinge durchs Dorf ziehen – ein Zeitbild, das sehr aktuell wirkt und dieses Stück um die Dimension von Flucht und Vertreibung erweitert. Trotz Inferno, Weltenbrand, Verbannung, Tod und Trauer gibt es einen Hoffnungsschimmer am Horizont: Das Schlussbild ist nicht illusionslos, sondern eher verklärt. Die Heiterkeit und der Ernst wird in erzählerische Szenen und tänzerische Bewegungsformen übersetzt, ganz nach Wherlocks Motto: Motion führt zu Emotion. Da gibt es Momente von ausgelassener Fröhlichkeit im Stetl wie das mitreißend choreografierte Hochzeitsfest. Wherlocks Tanzästhetik gefällt wie immer, seine präzise Detailarbeit (bis hin zum genau einstudierten Gelächter Tewjes) überzeugt. Bei den Feiern und Festen im ersten Teil sind die Massenszenen klar koordiniert, fliegen die Tänzer nur so über die Bühne. Später, wenn der apokalyptische Weltenbrand einsetzt, macht das Chaos der Massenflucht emotional starke Wirkung, weil Wherlock sich bestens auf Gruppenchoreografie versteht. Das Basler Ballett tanzt seinen zugänglichen zeitgenössischen Tanzstil in schönster Perfektion. Das Ballett ist mit handelnden Solisten besetzt, die wunderschöne Duos tanzen dürfen. Allen voran der großgewachsene, schlaksige Frank Fannar Pedersen als munterer Milchmann Tewje und Ayako Nakano als seine Frau Golde. Die älteste Tochter Zeitel (sehr mädchenhaft: Andrea Tortosa Vidal) macht mit ihrem Schneider Mottel (Jorge Garcia Pérez) ihrem Vater noch am wenigsten Zores (Sorgen). Lustig wird’s immer, wenn Jente, die Heiratsvermittlerin mit ihrem kecken Hütchen (Debora Maiques Marin) auf der Bildfläche erscheint. Für Überraschung sorgen die schwarzweißen Video-Projektionen (Andreas Guzman, Bruce French) in Zeitlupenbewegung von traumatisierten Gesichtern, Augen, wogenden Ähren, Pferdeköpfen und Teig knetenden Händen – mysteriöse Videostills, deren magische Bilderbesessenheit den Zuschauer so in Bann zieht, dass der Blick von der Tanzfläche abgelenkt wird. Wo soll man da hinschauen" Untermalt wird diese Bilderflut von sinfonischer Klezmermusik. Olivier Truan nutzt das Klezmer-Idiom für eingängige Balkanklänge, fetzig gespielt vom Kolsimcha-Quartett und dem Sinfonieorchester Basel (Leitung Alexander Mayer), das den Musikteppich legt. Da darf die Klezmerklarinette zur Tanzsprache lachen, juchzen, weinen. Mit dieser fantasievollen tänzerischen „Fiddler“-Adaption führt Richard Wherlock das Basler Ballett buchstäblich „on the roof“ – auf einen neuen Gipfel, was auch das Premierenpublikum stürmisch feierte. Weitere Informationen: Die nächsten Termine: 25. November, 19.30 Uhr, 11., 20., 22., 26. und 29. Dezember