Von Dorothee Philipp Basel. „Der arge, kleine Urfaust, kraklig, in alter Manier, doch drastisch schön mit wilden Sätzen aus dem Leben auch...“ – den Prolog der jungen Dichterin Ann Cotten Goethes „Urfaust“ einleiten zu lassen, ist ein genialer Kunstgriff von Nora Schlocker, seit knapp einem Jahr Hausregisseurin am Theater Basel. Ihre neue Produktion, die am Donnerstag im Schauspielhaus Premiere hatte, wurde vom Publikum nach zweieinhalb intensiven Stunden frenetisch mit minutenlangem Beifall und Begeisterungsrufen gefeiert. Vor dem Bühnenvorhang von Lisa Stiegler als Gretchen im Bademantel vorgetragen, öffnet die im alten Versmaß gehaltene, aber mit modernen Wörtern wie Service, Chancen, Bildung, Lügenpresse gepfefferte Analyse einen viel versprechenden Blick auf das Schauspiel, das in seiner Eigenständigkeit beileibe nicht nur ein Vorläufer der großen zweiteiligen Tragödie ist, die Goethe später aus dem Stoff gemacht hat. Dann nimmt die dramatische Liebesgeschichte aus der Zeit von Sturm und Drang ihren Lauf. Die Zuschauerrolle des Publikums wird eingefordert durch einen Guckkasten von Bühnenbild, der nach hinten konisch zuläuft und an der Decke verspiegelt ist, was die Szenen wie ein Kaleidoskop multipliziert. Lisa Stiegler spielt das Gretchen als einfaches Mädchen vom Lande, schüchtern, pflichtbewusst, vom derben Kontext seiner Lebensbedingungen geprägt: Die rührende Unbefangenheit, als sie sich am Zuber wäscht, der hessische Dialekt, die Sprache des Frankfurters Goethe, der sich immer wieder Bahn bricht, ihr gesunder Abscheu vor Mephisto (Nicola Mastroberardino). Ein Höhepunkt des Abends ihr Monolog „Ach neige du Schmerzensreiche...“, kein bigottes Angstgeflüster, sondern der kehlig rau gebrüllte und geschluchzte Ausbruch eines in Panik geratenen Menschen kurz vor der Hysterie. Mephisto tänzelt, hüpft und spasst sich durch das Stück, eine elegante geschmeidig-schlanke Erscheinung im albernen rosa Rokoko-Habit, die gegen Ende mit weiß geschminkter Fratze und rotverschmiertem Clownmund (wie Heath Ledgers Joker) auch optisch ihre diabolischen Abgründe offenbart. Faust (Max Rothbart) lässt sich willig hineinreißen in den Sinnentaumel, seine Gier, das „schöne junge Blut“ noch in derselben Nacht im Arm zu halten wird durch Mephistos raffinierte Hinauszögerung zur Raserei gesteigert. Rothbart spielt den Protagonisten als unersättlicher Wissenschaftsfreak, der nach den Sternen greifen will und von seinem streberhaften Famulus (Florian von Manteuffel) angeödet wird. Kabarettistische Züge hat die Szene in Auerbachs Keller, wo das gestiefelte Studentenquartett nach einer etwas anderen „Weinprobe“ in zartem Falsett zu singen beginnt: „Uns ist so kannibalisch wohl als wie fünfhundert Säuen“. Paarbeziehungen in verschiedenen Stadien durchläuft die Szene in Marthes Garten. Die „Gastgeberin“ (Myriam Schröder) ist eine toughe Powerfrau etwa um die 40, ebenfalls mit leicht hessischem Akzent, einer Affäre nicht abgeneigt und Gretchen bei ihrer Liebesaffäre behilflich. Requisiten werden in diesem Stück sehr sparsam, aber dafür umso plakativer eingesetzt, etwa der monströse Fliederstrauß, aus dem Gretchen ihr Liebesorakel zupft. Die Waffe, mit der ihr Bruder Valentin (Michael Wächter) malerisch aus der Halsschlagader blutend zu Tode kommt, ist ein simples Gartenschäufelchen, das eher zufällig zur Mordwaffe wird. Röhrenglocken, Schlagzeug, eine Orgel und raffiniert verfremdende Tricks stehen den vier Musikern zur Verfügung, die das Geschehen begleiten und kommentieren, der Szene am Dom Bedrohlichkeit verleihen, mit Donnerschlag die Finsternis zwischen den Szenen zur Hexenküche machen, mit Jahrmarktorgelklängen, die zum kakofonen Chaos mutieren die Scheinidylle zerreißen. Sturm und Drang hin oder Weimarer Klassik her – Faust hat nichts von seiner Aktualität verloren.