Donaueschinger Musiktage Augen wie geschluckte Milch

Susanne Benda
Zwischen Bild und Bewegung, Klang-Performance und Installation: Ondřej Adámeks „Air Machine“ Foto: SWR-Pressestelle/Fotoredaktion

Das kleine Wort „und“ gibt dem diesjährigen Neue-Musik-Festival in Donaueschingen die Richtung vor: Eingeladen wurden künstlerische Mehrfachbegabungen – zu hören waren Stücke, die man auch sehen konnte.

Donaueschingen - Bilder haben keine Zeit. Sie brauchen nur Raum, dann sind sie gleich ganz da. Zeit braucht nur der Betrachter, der seine Augen an den Farben entlanggleiten lässt, an den Punkten, den Linien, den Flächen und so im Großen das Kleine entdeckt. In der Musik, in der sich das Ganze eines Kunstwerks erst allmählich zusammensetzt, ist dies umgekehrt.

Aber wie ist es, wenn ein Kunstwerk gleichzeitig Bild und musikalische Spielanweisung ist? Chiyoko Slavnics zeichnet Linien und Formen auf Papier, die Klänge sein sollen, die Musiker des Klangforums Wien gleiten im neuen Stück der Kanadierin, „Three Inner Voicings“, weiträumig von einer Tonhöhe zur nächsten.

Der Hörer, der um das Thema der diesjährigen Donaueschinger Musiktage weiß, sucht nach Entsprechungen zwischen bildender Kunst und Musik und findet sie in der gefüllten Fläche, in Begriffen wie Höhe und Tiefe, und dieser Blick macht Slavnics’ drei Etüden selbst dann noch interessant, als sich das Material und die Vorgehensweise der Komponistin am Ende doch ein wenig abgenutzt haben.

Die Idee des Festivalchefs Armin Köhler, der den Musiktagen in diesem Jahr krankheitsbedingt fern bleiben musste und in vieler Hinsicht vermisst wurde, wirft viele Fragen auf. Wie kann sich die gestalterische Idee eines Komponisten in unterschiedlichen Kunstformen niederschlagen? Berühren und befruchten sich die Musik und andere Künste im Werk eines Multitalents? Gibt es Synergie-Effekte? Was eint die Künste, was trennt sie? Und was passiert, wenn ein Künstler uns keine gut verdauliche Trennkost, sondern alles auf einmal serviert?

Neue Vocalsolisten lassen kleine Bewegungen Klang werden

Letzteres hat Jennifer Walshe in ihrer musikalisch-szenischen Fantasie „The Total Mountain“ getan, in der sie als ihre eigene Performerin der Informations-Überforderung des World Wide Web einen Overkill an Bildern, Videos, akustischen Zuspielungen, Gesprochenem und Gesungenem entgegensetzte – witzig, zynisch, manchmal geistreich, manchmal auch ein wenig platt, aber ausgesprochen unterhaltend.

Eine ähnliche Gleichzeitigkeit der Künste hat kein anderer gewagt. Chris Newman spielte bei „Explanation“ lediglich in zwei Zimmern neben dem Konzertraum neu montierte alte Filmszenen ab, während ein Streichquartett Versatzstücke aus den fünften Sinfonien von Beethoven und Sibelius neu montierte. Dabei spiegelten sich die künstliche Naivität und der behauptete Dilettantismus im Spiel der Musiker in Skizzen, die an den Wänden hingen. Der laue Beifall entsprach dem Werk.

Josef Anton Riedl (85), Altmeister künstlerischer Grenzüberschreitungen, hat in „Schweigewatte mit Anspielung“ aus wundervollen lyrischen Sprachbildern Hertha Müllers, die er zerstückelt, bis auf die Konsonanten skelettiert und spielerisch neu zusammensetzt, eine ebenso wundervolle Sprachmusik gemacht.

Die Autorin stand als dritte Rezitatorin neben einem rhythmisch verstärkenden Schlagzeuger auf der Bühne, und wo könnte Sprache poetischer, musikalischer und sprachloser sein als in Formulierungen wie „Die Zeit ist ein spitzer Kreis“ oder „Augen wie geschluckte Milch“?

Hochpoetisch wirkt auch die Klanginstallation „Mille plateaux“ des Franzosen Pascal Dusapin: In einem verdunkelten Raum verarbeitet ein Computerprogramm einzelne Formen und Figuren aus Zeichnungen des Komponisten und wirft, begleitet nur von Naturgeräuschen, wechselnde bunte Lichtwirbel auf eine Reihe unterschiedlicher Stoffe, die im Raum aufgehängt sind. Da mag man lange bleiben – und hinterher vielleicht noch einmal im Museum die Fotografien Dusapins betrachten. Dort finden sich auch abstrakte Gemälde Hans Zenders, die vielleicht ein wenig angestaubt, aber deutlich weniger trocken wirken, als es im Konzertsaal sein neues Stück „Oh cristalina . . .“ tut, an dem sich das SWR-Vokalensemble und das SWR-Sinfonieorchester Freiburg und Baden-Baden auf glänzende Weise abarbeiten.

Man kann in der Ausstellung auch Zeichnungen Salvatore Sciarrinos betrachten, auf denen es von winzig kleinen Punkten und Strichelchen wimmelt. Die Entsprechung im Klang liefern die Neuen Vocalsolisten Stuttgart bei der Uraufführung von „Carnaval“, das in (bekannter, aber immer wieder schöner) Sciarrino-Manier Bestandteile alter Musik auf neue Weise zusammensetzt. Das Ergebnis ist ein Kosmos kleiner Bewegungen, die vorzugsweise auf- und niedergleiten: eine Musik, die ganz im Augenblick ruht. Nicht nur mit ihrer ganz reinen Imitation einer tirilierenden Nachtigall führt sich die neue Sopranistin des Ensembles, Johanna Zimmer, hier glänzend ein.

Dass außerdem ein neues Stück Wolfgang Rihms („Sound As Will“) für Kammerorchester und Trompete (Marco Blaauw) uraufgeführt wurde, sei auch noch erwähnt. Nach den stillen Stücken von Sciarrino und Slavnics sorgten sein hoher Aktivitäts- und Erregungsgrad für wahrhaft packendes Erleben.

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