Von Walter Bronner Kandern-Riedlingen. Wenn Timo Brunke im verbalen Schweinsgalopp durch die Weltgeschichte rast, verschlägt es seiner Zuhörerschaft schier den Atem. Denn in diesem „Millennium-Memory“ kommen in formvollendeter Reimkunst binnen vier bis fünf Minuten so ziemlich alle vor, die als Regenten, Richtungsweiser, Revolutionäre und Rattenfänger am Rad eben dieser Geschichte drehten oder es zumindest versuchten. Es ging am Samstag im Riedlinger „Theater im Hof“ schon auf Mitternacht zu, als sich das mit Wortkaskaden förmlich zugeschüttete Publikum von dannen trollte. Denn was es da zuvor während zwei Stunden auf die Ohren bekam und an komödiantischen Kabinettstückchen visualisieren durfte, war Schauspiel- und Dichtkunst in Perfektion – und auf engstem Raum. Das musste hinterher noch small talkend reflektiert werden. Der Besucherandrang war enorm und die aufgereihten Plastikstühle unter dem ausladenden Blätterdach der in der Hofmitte aufragenden Kastanie gewährten kaum noch Beinfreiheit. Doch gewisse Unbequemlichkeiten werden in Riedlingen nur zu gerne akzeptiert, zumal wenn ein Bühnenakteur wie dieser genialische Stuttgarter Wortkünstler „im Werbekampf im herben“ zu verstehen gibt, er „…würde eher sterben als nicht für Verben werben“. „Orpheus Downtown“ heißt Timo Brunkes Programm (und neuestes Buch), in dem der bewundernswerte Slampoet in der wohlgesetzter Reimkunst klassischer Dichter die heutige Konsum- und Spaßgesellschaft vorführt. Etwa dort, wo der „Pöbel parkt“ – na klar: am „Möbelmarkt“. Oder wenn er eine Einkauftour im Supermarkt als „Tetra-Ode im Übermarkt“ (Titel: Ich und mein Einkaufswagen) wortspielerisch ähnlich aufzäumt wie weiland Schiller seine Ballade „Die Kraniche des Ibykus“, nur noch ein halbes Dutzend Strophen länger. Brunke versteht es perfekt, seinen poetischen Spaten genau dort anzusetzen, wo der Hund „verlocht“ ist. Und selbst da, wo er bloß Fassade auf Made reimt, vermag der gewandte Knittelverse-Schmied noch einen tieferen Sinn hinein zu mogeln. Ansonsten jongliert er mit Stab- und Endreimen als ein ausgebuffter Beherrscher aller Arten und Abarten verbaler Rhythmik, Vers- und Strophenformen. Selbstverständlich hat er auch „echt, eeh“ den Slang des aufmüpfigen Knackis mit Migrationshintergrund drauf, der nur deshalb auf die schiefe Bahn geriet, weil er „Muttis feuchte Bussis“ nicht mehr zu ertragen vermochte. In Wagners waberndem Wahnduktus à la „Tristan und Isolde“ erging sich der Wortkünstler in einem abstrusen Isa-Poem, und Kurt Schwitters Dada-Lyrik verballhornte er in einer verbalen Mixtur, in der unter anderem „Gänsegeier in den Volieren auf unser Händchenhalten schauen“. Und dass Orpheus heute noch lebt, bewies er anhand des allüberall anzutreffenden Knopfes im Ohr. Ein Abriss über die Skandinavischen Filmtage mit ihren Leinwand-Epen „Bohrinsel der Einsamkeit“ und „Die Bücklinge von Bornholm“ konnte nur noch getoppt werden vom Gedichtzyklus zum fünfteiligen Dia-Abend „Ein Suppenwürfel im Grand Canyon“. Im Zugabenteil kam dann auch noch zartest besaitete Poesie zu ihrem Recht - am Beispiel eines Tagpfauenauges, das davon träumt, dass ihm nach geschlürftem Nektar ein Häuchlein sanftem Odems entweicht. Und dann gab der Wortakrobat mit einer spontan gereimten Danksagung an die Riedlinger Gastgeber Dorothea und Dieter Bitterli auch noch ein exemplarisches Beispiel seiner Improvisationskunst.