Rümlingen. „Kreise ziehen Kanons aus sieben Jahrhunderten“ – so lautet  der  Titel des diesjährigen  Festivals für Neue Musik im Dörfchen Rümlingen in Baselland, das gerade mal 400 Einwohner zählt.  Doch das ambitionierte  Festival   hat sich schon lange einen Namen gemacht und lockt  alljährlich aufgeschlossene Musikliebhaber  aus nah und fern an. Mit dem künstlerischen Leiter Thomas Meyer unterhielt sich  vor dem  Start am heutigen Samstag Gabriele Hauger.
 
Neue Musik – da zuckt so mancher Klassikfreund zunächst zurück. Mit welchen Worten würden Sie für Neue Musik werben?
Da fällt mir mancherlei ein: Happy New Ears (John Cage). Auch Mozart war mal neu. Frischer Wind in die Ohren! Ohne Gegenwart ist die Vergangenheit langweilig. Mit ungewohnten Klängen die Ohren erfrischen!
 
Seit 1990 wirbt das kleine Rümlingen für sein Festival mit der Bezeichnung als klangsinnliches Labor oder experimentelle Bühne. Das klingt sehr ambitioniert. Wen erreichen Sie mit Ihrem Programm und wen würden Sie gerne erreichen?
Das Festival ist einerseits lokal gut verankert, zieht aber auch europaweit Kenner und Liebhaber an. Wir möchten jene erreichen, die sich für das Besondere interessieren, für das, was sie sonst nirgendwo erleben können.
 
Wie charakterisieren Sie Ihr Festival, das ja auch Theater und Installationen einschließt?
Wir bieten zwar Konzerte an, gehen dabei aber weiter über die gängigen Konzertformate hinaus, ins Theatrale und Installative, wir beziehen gezielt die Umgebung und die Landschaft, aber auch die Menschen in dieser Landschaft mit ein. So gab es schon Klangwanderungen durch die Nacht, die erst im Morgengrauen endeten. Alles ist denkbar. Wenn jemand von uns eine verrückte Idee hat, sagen die anderen: „Das ist unmöglich! Das müssen wir machen!“
 
„Kanons aus sieben Jahrhunderten“ heißt das diesjährige Thema. Wie sind Sie darauf gekommen, was hat Sie inspiriert?
Der Kanon ist die scheinbar simpelste musikalische Form – und gleichzeitig auch, wenn man in die Musikgeschichte schaut, die komplexeste und verrätselteste. Die meisten kennen die Kanons von Bachs, aber die Musikgeschichte ist voller Kanons vom 13. bis ins 20. Jahrhundert – selbst die neueste Musik, obwohl das vielen gar nicht so bewusst ist. Diese Schichten wollen wir zeigen, mit Uraufführungen, aber auch, indem wir die Gegensätze nebeneinander stellen: So stellt der Komponist und Cembalist Brice Pauset eine eigene Fantasia canonica um die Kanons der Goldberg-Variationen herum. Wir veranstalten ein Kanonisches Bankett, bei dem die lustvoll-spielerische Seite dieser Gattung zum Zug kommt, und am Sonntagnachmittag gehen wir alle auf eine Kanonwanderung, singen zusammen und entdecken neue Formen des Kanons in der Landschaft.
 
Nach welchen Kriterien haben Sie die Komponisten ausgewählt?
Der Vielfalt nach. Wir haben einzelne Stücke aus der Musikgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit zusammengestellt und   dazu mehrere Komponistinnen und Komponisten von heute, vor allem aus der Schweiz, gebeten, sich ihrerseits Gedanken zu diesem Thema zu machen. Der Kanon, das wird sich dabei zeigen, hat sehr sehr viele Gesichter – und manchmal ist er dabei kaum mehr erkennbar.
 
Können Sie kurz zwei Beispiele – eine alte und eine neue Komposition – beschreiben?
Der Kanon hat natürlich auch etwas mit dem uns allen vertrauten Echo zu tun, und das nutzte einst der Renaissancekomponist Orlando di Lasso für seine Villanella „O là! O che bon eccho!“
Der Luzerner Komponist Urban Mäder wiederum nutzt diese Raumeffekte in seinem neuen Stück, um das imitatorische Zusammenspiel der Instrumente unscharf zu machen, zu verschieben, ja zu verzerren. Je nach Position werden auch die Hörer diesen Kanon unterschiedlich erleben.
 
Klangwanderung und Mitgestaltung gehören zum Programm. Wie wichtig ist in diesem Zusammenhang das Thema Natur?
Beim Titel des Festivals „Kreise ziehen“ geht es uns einerseits um die Kreisförmigkeit des Kanons. Andererseits ziehen wir die Kreise auch immer weiter: Vom ersten Konzert in der Kirche über den Bankettsaal hinaus schließlich in die Landschaft. Die Räume draußen im Wald und auf den Wiesen spielen dabei eine wichtige Rolle, sie verändern wie gesagt die kanonischen Wirkungen und damit die Wahrnehmung. Gleichzeitig beziehen sich einige Kanons direkt auf die Natur: der älteste Kanon ist der „Sommerkanon“ aus dem 13. Jahrhundert. Den werden wir gemeinsam singen.
 
Richten Sie sich mit Ihrem Programm auch an ganz junge Hörer und wenn ja womit?
Ja natürlich. Unsere traditionellen Klangwanderungen sind meistens sehr familienfreundlich, wenn auch der Weg diesmal an einer Stelle zumindest nicht ganz kinderwagentauglich ist. Alle können mitmachen, singend, und alle können dazwischen ganz neue Klangerfahrungen machen. Junge Hörer sind ja eigentlich all jene, die offene Ohren haben.
 
Ihr diesjähriger Favorit?
Mein Kollege, der Saxofonist Marcus Weiss, der mit mir zusammen dieses Programm gestaltet hat, ist besonders stolz darauf, dass er einen etwas vergessenen Kanon des Basler Komponisten Jacques Wildberger ausgegraben hat. Und ich bin gespannt, wie die „Extended Circular Music No. 10“ des Aarauers Jürg Frey funktioniert: Er hat das Kanonprinzip auf kleine Aktionen angewendet, z.B. „Lassen Sie ein Steinchen oder ein getrocknetes Blatt fallen“ oder „Machen Sie ein Foto mit Ihrer Kamera“. Alle Festivalbesucher sind eingeladen dabei mitzumachen – und doch wird das gemeinsame Ergebnis nur momentweise erkennbar werden. Der Kanon, das zeigt sich dabei, ist etwas Alltägliches.
 
Heute, 18 Uhr:  Auftakt in der Kirche, ab 19.30 Uhr in der Turnhalle in Rümlingen; am Sonntag ab 14 Uhr: Klangwanderung, Start bei der Kirche;
Weitere Informationen unter www.neue-musik-ruemlingen.ch