Basel. Seit zwölf Jahren präsentiert  das Festival  wildwuchs alle zwei Jahre internationale Kunst und Kultur in Basel, experimentiert mit neuen Tanz-, Performance- sowie Theaterformen und ermöglicht Menschen aus allen Lebensbereichen die volle und aktive Teilnahme am kulturellen Leben der Stadt. Die nächste Auflage findet  mit fast 40  Veranstaltungen vom 4. bis 14. Juni  vor allem auf dem Kasernenareal   statt.  Gabriele Hauger sprach im Vorfeld mit der künstlerischen Leiterin von wildwuchs, Gunda Zeeb.
 
Das Festival steht für Toleranz, Öffnung und Neugier. Wie ist es darum in unserer Gesellschaft bestellt?
Nicht ganz so, wie ich es mir erhoffen würde. Deswegen braucht es ja auch solche Festivals wie wildwuchs. Ich glaube, dass im Bereich der Toleranz die Grenzen eher wieder enger geworden sind. Gerade auf dem Gebiet der Zuwanderung, das bei vielen Menschen auf Ablehnung stößt.  Was die neugierige Offenheit betrifft: Die ist – wie ich finde – weniger geworden. Das mag auch daran liegen, dass die Menschen eher zu Hause vor dem Computer sitzen, als rauszugehen. Dabei ist Neugier doch so wichtig. Offen zu sein, neue Menschen kennenzulernen.
 
2013 haben Sie die Festivalleitung übernommen. Was wollten Sie bewahren, was erneuern?
Wir wollten das Gute bewahren und haben  seit der letzten Festivalausgabe den Fokus des Festivals vergrößert. In puncto Behinderung fassen wir den Begriff weiter: Es geht uns nicht nur um geistige oder körperliche Behinderung, sondern eben auch  um Behinderung  durch soziale Enge oder durch die Tatsache, dass man aus dem falschen Land kommt oder nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrund hat, um am sozialen Leben teilzunehmen.
 
Dieses Jahr heißt das Schwerpunktthema „Verantwortung übernehmen“. In welchen Bereichen ist das besonders nötig?
Natürlich steht da  an erster Stelle das Flüchtlingsproblem. Und das wird uns auch nicht so schnell loslassen. Es wird eher schlimmer werden, die Fluchtbewegungen auf der Welt nehmen stetig zu. Wir haben einfach das Glück, dass wir in Ländern geboren sind, in denen wir nicht zur Flucht gezwungen sind. Das heißt aber doch nicht, dass wir uns gegenüber den Hilfesuchenden aus der Welt völlig abschotten können. Und sagen: Ihr dürft hier nicht rein! Die meisten flüchten ja nicht, weil sie das wollen, sondern weil sie keine andere Wahl haben, ihr Leben zu meistern oder auch nur zu überleben. Wir würden ja auch wollen, dass uns jemand Unterschlupf gewährt, wenn uns in unserem Land jemand Offizielles an den Kragen will.
 
Abgesehen vom Flüchtlingsdrama: Wo sollte man denn noch mehr Verantwortung übernehmen?
Im menschlichen Miteinander. Gerne  wird ja Verantwortung  auf andere abgeschoben oder auf die Politik oder die Gesellschaft.  Man sollte  aber auch selbst für etwas einstehen. Auf der anderen Seite geht es  auch darum, Verantwortung abzugeben. Gerade gegenüber  behinderten oder benachteiligten Menschen. Denen wird nämlich oft zu wenig zugetraut, obwohl sie oft sehr gerne die Verantwortung für ihr eigenes Leben selbst übernehmen würden.
 
Das Thema Flüchtlinge ist ja hoch aktuell. Wie greifen Sie das thematisch auf?
Zum Beispiel mit einem Hörspiel, das wir zusammen mit dem Sender Radio X produziert haben. Da geht es um eine Wohngemeinschaft von Flüchtlingen, in der sich Schweizer um ein Zimmer  bewerben müssen. Der Spieß  wird also umgedreht. Ein anderes Beispiel  ist  die Eröffnungsproduktion aus Belgien.  Da geht es um Nigerianer, die  nach  Belgien gelockt wurde mit dem Versprechen einer Fußballerkarriere.  Die dann die meisten aber doch nicht machen durften. Daraus haben sie ein Theaterstück gemacht, in dem es darum geht, wie man einen europäischen Pass bekommt. Wie man hier überlebt als sogenannter Illegaler, welche Tricks es gibt, um legal zu werden – alles aus der Perspektive der Betroffenen.
 
Es geht aber nicht nur ums Thema Flüchtling?
Nein. Es ist aber ein Schwerpunkt. Neben diesem Thema liegt der Fokus darauf, wie in unserer Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung umgegangen wird. Wir wollen da weg von der Betroffenheitsschiene. Uns geht es darum, Möglichkeiten aufzuzeigen. Wie zum Beispiel in dem Stück „Rimini Protokoll“. Da ist eine Frau auf der Bühne, die nach einem Genickbruch gelähmt ist und im Rollstuhl sitzt. Sie erzählt von ihrem Leben. Eine enorm motivierende Geschichte. Der Zuschauer denkt hier keinesfalls: Oh Gott, die Arme! Vielmehr geht man raus aus dem Stück und fragt sich: Wie wenig mache ich eigentlich aus meinem Leben, obwohl ich alle Möglichkeiten habe?
 
Sie laden geistig und körperlich behinderte Künstler ein, aber nicht nur. Welches Konzept steckt dahinter?
Ich wähle die Künstler nach der Thematik ihrer Stücke aus. Und nach ihrer künstlerischen Qualität. Wir stellen das Programm nicht irgendwie prozentual aus Behinderten und Nicht-Behinderten zusammen, sondern wir suchen interessante künstlerische Projekte oder initiieren sie selbst . Dabei versuchen wir thematisch in die Breite zu gehen: Neben Tanz mit körperlich Behinderten gibt es auch ein Stück für Gehörlose oder für Blinde.

Wie funktioniert der Austausch mit dem Publikum?
Der ist uns sehr wichtig! Wir haben ein Festivalzelt auf dem Kasernengelände aufgebaut, wo  Gastfreundschaft groß geschrieben wird. Es gibt jeden Abend einen Stammtisch für  Künstler und Publikum. Es wird dort zudem gemeinsam gekocht, und auch dabei kann man bestens miteinander ins Gespräch kommen. Unsere Idee war es, möglichst viele Begegnungsmomente zu schaffen.
 
Stichwort Publikum. Kommen zum Festival nicht gerade die Menschen, die sowieso schon tolerant und aufgeschlossen sind?
Das ist zugegebenermaßen wohl so. Wir versuchen allerdings, über bekannte Namen, zumindest generell kulturell Interessierte anzulocken.Die zu kriegen, die sagen „Uh, Behinderte will ich nicht sehen“ oder „Flüchtlinge alle raus“ – das ist schwierig. Da darf man nicht zu idealistisch sein.
 
Im Alltag gibt es noch immer große Hemmschwellen gegenüber Behinderten. Sieht das in der Kunst anders aus?
Die gibt  es da auch. Vielleicht weniger in der Bildenden Kunst, weil da ja  weniger die Künstler selbst als ihre Werke in Erscheinung treten. In der darstellenden Kunst ist es zwar in den letzten Jahren durch viele Projekte besser geworden, aber es ist immer noch einiges zu tun. Deshalb auch unser Festival!
 
In Deutschland ist das Thema Inklusion gerade hoch aktuell. Wie sieht das in der Schweiz aus?
In Basel speziell ist das auch gerade ein Thema, weil ja die geplante Schließung der Fachstelle für Begleitung von Menschen mit Behinderung für großen Wirbel gesorgt hat. Aber sonst hält es sich eher in Grenzen. Zu viel kümmert man sich jedenfalls nicht darum.
 
Wie stehen Sie aus Ihrer Erfahrung heraus zur Inklusion?
Das ist schon wichtig. Ich habe das bei meiner Tochter in der Krippe mitbekommen, wo auch ein behindertes Mädchen mit dabei ist. Das ist für die Kinder ganz normal. So ein selbstverständliches Miteinander kann schon viel zur Toleranz beitragen. Aber es ist nicht einfach, das merke ich auch beim Festival. Man kann nicht Alle zusammenwerfen, muss geschützte Räume bieten. Und darf niemanden durch zu schnellen Aktionismus überfordern. Man muss Begegnungsmomente schaffen, darf aber nicht vergessen, dass die Bedürfnisse von Behinderten eben auch teilweise andere sind.  
 
Wie sollte sich der Zuschauer beim Festival orientieren?
Einfach hingehen. Oder unsere im Internet zusammengestellten Tagestouren nutzen. Da gibt es für jeden Tag einen Vorschlag zur Gestaltung, inklusive Essen.
 
Ihr Geheimtipp?
„Monster Truck“  am 10. Juni. Die waren letztes Mal schon mit einer viel beachteten Produktion beim Festival und haben für  Diskussionsstoff gesorgt. Deshalb bin ich gespannt, wie diesmal das Publikum reagiert. Es ist eine Gruppe mit geistig behinderten  Darstellern,  die  auch  die Regie übernommen haben und bestimmen, was geschehen soll. Wahnsinnig spannend!

Wildwuchs-Festival vom 4. bis 14. Juni, Infos unter: www.wildwuchs.ch


Kurzinfo:
Gunda Zeeb leitet seit 2012 das wildwuchs-Festival in Basel. Von 2006 bis 2012 war sie als Dramaturgin am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich tätig. Vorher war Gunda Zeeb am Berliner HAU (Hebbel am Ufer) als Assistenz von Matthias Lilienthal engagiert.
Gunda Zeeb unterrichtet regelmäßig an der Zürcher Hochschule der Künste und der Universität Zürich.  Sie ist außerdem Mitglied der Theaterkommission des Kantons Zürich.