Lörrach Balzer: Aneignung als eine Grundlage für Kultur

Emel Zeynelabidin
Moderatorin Yeboaa Ofosu und der Autor Jens Balzer traten für Debatten anstelle von Scheuklappen ein. Foto: Emel Zeynelabidin

Burghof-Chef Timo Sadovnik beschreibt das Thema des Abends als eines mit „Trigger- effekt, weil beladen mit Vorurteilen“.

Es geht um die sogenannte „Kulturelle Aneignung“, auch Kulturelle Appropriation genannt. Mit seinem Buch im Kleinformat, das die Thematik in vier Kapiteln behandelt, bemüht sich der Autor Jens Balzer um Verständigung in dieser hochkomplex gewordenen, polarisierenden öffentlichen Kontroverse. Seine These ist klar und eindeutig: Ohne Aneignung ist Kultur nicht denkbar.

Balzer nennt als Beispiele die Musik des britischen Gitarristen Eric Clapton, die auf den Traditionen und Techniken des Blues basiert, oder die Musik des Amerikaners Elvis Presley, der seinen Ruhm dem Rock ´n ´Roll zu verdanken habe.

Er wehrt sich gegen das Richtig- und Falsch-Denken, das überhandgenommen hat. Es ist eher das dialektische Wesen dieser Aneignungspraxis- und -Notwendigkeit, die einer ethischen Betrachtung unterzogen werden müsse, um einerseits „ihre schöpferische, kulturstiftende Kraft und ihre Verstrickung in Macht- und Ausbeutungsverhältnisse zu erfassen“.

Priester und Beichtstuhl

Balzer berichtet von einem Vorfall aus dem Jahr 2021, als Bettina Jarasch von den Berliner Grünen auf einem Parteitag nach etwas Prägendem aus ihrer Biografie gefragt wurde und sie daraufhin antwortete, sie wäre gerne als Kind Indianerhäuptling geworden. Jarasch beugt sich daraufhin dem Druck kritischer Stimmen und distanziert sich öffentlich von ihrer angeblich kolonialistischen Aussage: „Ich verurteile meine unreflektierte Wortwahl und meine unreflektierten Kindheitserinnerungen, die andere verletzen können.“ Balzer kritisiert hier, dass eine notwendige Debatte ersetzt wird durch „ein Priester-Beichtstuhl-Verhältnis“, und spricht von einem „antirassistischen Wahrheitsregime“. Er fragt sich: „Wie können sich unschuldige Kindheitserinnerungen in den Skandal einer herabwürdigenden Diskriminierung verwandeln?“

Balzer betont, dass Wokeness im Grunde nichts Schlechtes sei: Es gehe dabei um einen achtsamen und sensiblen Umgang, der im Kern das freundliche Kommunizieren meint, von dem der Philosoph Jürgen Habermas spreche. Aus einer ideellen Bewegung ist jedoch ein intellektueller Diskurs geworden, wo keiner mehr miteinander rede, beklagt Balzer.

Nicht nur richtig und falsch

Auf dem Podium moderiert Yeboaa Ofosu, Kulturwissenschaftlerin an der Hochschule der Künste Bern. Sie erzählt von einem Konzert der Schweizer Reggae-Band „Lauwarm“, das im Jahr 2022 in Bern stattfand und abgebrochen wurde, weil sich einige aus dem Publikum beim Anblick der Frisuren der Musiker, die Dreadlocks trugen, unwohl fühlten und meinten, es handele sich um eine kulturelle Aneignung. Angehörige einer herrschenden Kultur hätten nicht das Recht, sich schöpferische Errungenschaften einer unterdrückten Gruppe anzueignen.

„Ein Gespräch findet nicht statt. Wie soll man damit umgehen?“, beklagt auch Ofosu. In diesem „Richtig und Falsch“-Denken gehe viel Potenzial für konstruktive Diskussionen verloren.

Man bekommt den Eindruck, dass Balzer, der in Hamburg Philosophie und Germanistik studiert hat, sich mit seiner analytischen Abhandlung von der „Ethik“ der kulturellen Aneignung wie ein Krieger auf das Schlachtfeld wirft, um zu retten, was noch zu retten ist. Die Debattenkultur sei nicht mehr normal. Man habe Angst, etwas Falsches zu sagen. „Es gab mal eine Grundsolidarität, bei der man sich austauschen konnte. Diese Grundsolidarität ist zerfallen. Heute breitet sich eine extreme Einsamkeit aus.“

Balzer wünscht sich, dass eines Tages alle sich fragen: „Was machen wir hier eigentlich, die wir uns im Sektierertum, sinnlosem Kämpfen und Streiten verloren haben, anstatt uns zu besinnen, was politisch wichtig ist, nämlich eine solidarische Debatte?“

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