Lörrach Für mehr direkte Demokratie

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Der dritte Tag der Demokratie stand ganz im Zeichen der bevorstehenden Bundestagswahl am Sonntag / Guy Morin für mehr bürgerliche Mitbestimmung.

Von Dorothee Philipp
 

Lörrach. Die Stadt Lörrach liegt im äußersten südwestlichen Zipfel der Bundesrepublik Deutschland. Das Stadtgebiet endet direkt an der Grenze zur Schweiz. Hier wurde vor 169 Jahren europäische Geschichte geschrieben: Am Nachmittag des 21. September 1848 überschritt der Jurist und Revolutionär Gustav Struve mit etwa 50 Anhängern als Zivilisten getarnt von Basel kommend die Landesgrenze zu Baden. Dahinter warteten weitere Sympathisanten mit Waffen, und der Zug nahm Kurs auf den Marktplatz von Lörrach.

Das Volk war aufgestachelt und hatte sich in Scharen versammelt. Einen Tag zuvor hatte sich Friedrich Hecker, der andere große badische Revolutionär, in Southampton auf dem Dampfer "Hermann" nach Amerika eingeschifft. Die Niederlage bei der Schlacht von Kandern und die kopflose Flucht der Freischärler-Truppen hatte große Teile der Aufständischen entmutigt. Konnte Struve das Steuer des Unternehmens "Freiheit, Bildung und Wohlstand für alle" noch herumreißen?

Er konnte es nicht, wie wir heute wissen. Aber seine Rede von einem Fenster des Lörracher Rathauses aus mit der Proklamation einer deutschen Republik etablierte für vier Tage die Stadt im äußersten Südwesten als provisorische Hauptstadt eines republikanischen Deutschland. Der schwarz-rot-goldene Funke konnte zwar nicht brennen, lebte aber weiter. Es sollte nach der Niederschlagung des Aufstandes durch badische und preußische Truppen fast hundert Jahre dauern, bis der Traum der 1848er Revolutionäre von einer gerechten Demokratie und Bürgerrechten für alle wahr wurde.
 

Der Tag der Demokratie

Wenn das kein Grund zum Innehalten, Nachdenken und auch zum Feiern ist! Seit 2015 ist der 21. September für Lörrach ein besonderer Tag. Dafür hat der Fachbereichsleiter für Kultur und Tourismus, Lars Frick gesorgt, der das Thema aus seinem lokalhistorischen Dornröschenschlaf geweckt hatte. So wurde gestern zum dritten Mal der "Tag der Demokratie" begangen mit einer Festrede, einem Schauspieler-Auftritt von Struve und dem Führer der Lörracher Bürgerwehr, Markus Pflüger, mit Stadtführungen, einem "Revolutionsessen für Alle" und am Ende mit einem Poetry Slam. Eine besondere Aktualität erhielt der gestrige Tag der Demokratie durch die unmittelbar bevorstehende Bundestagswahl.
 

Lörrach im Rampenlicht der Geschichte

"Wir waren die Ersten in Deutschland", stellte Jörg Lutz, Oberbürgermeister der Stadt, stolz fest. "Hier wurde große Geschichte geschrieben". Und: "Machen Sie von dem Recht, das damals hart erkämpft wurde Gebrauch und gehen Sie wählen", appellierte er an die Bürgerinnen und Bürger. Denn auch wer seine Stimme nicht abgebe, beeinflusse dadurch das Wahlergebnis.

Auf dem Lörracher Marktplatz waren für diesen Tag alle Wahlkampfveranstaltungen an Infoständen oder durch Kandidatenauftritte abgesagt worden, lediglich die Wahlplakate verbreiteten ihre stummen Appelle. Obwohl sich Lutz als Stadtoberhaupt nicht in die politische Diskussion einmischte, gab er doch eine klare Empfehlung: "Wählen Sie keine Partei, die bewusst oder unbewusst Hass gegen andere Menschen schürt", sagte er, und das versammelte Volk applaudierte lebhaft wie damals.


Die Rezepte des Doktor Morin

Die Revolution war mit Struve sozusagen durch die Basler Hintertür nach Deutschland zurückgekehrt, die Schweiz hatte den Geflüchteten eine Atempause ermöglicht. Auf diese besondere Beziehung wies der Festredner des Tages, Guy Morin hin, praktizierender Arzt und ehemaliger Regierungspräsident des Kantons Basel Stadt (2009-2016). "Braucht die Patientin Demokratie neue Medikamente? Gibt es Rezepte, um die Menschen für sie zu begeistern?", das habe ihn der Lörracher Oberbürgermeister gefragt, als er ihm die Rolle des "Revolutionsredners" für diesen Tag angetragen habe, berichtete Morin.

Vermutlich habe Lutz mit der Wahl eines Schweizers verhindern wollen, dass drei Tage vor der Bundestagswahl in Lörrach eine neue Revolution angezettelt werde, mutmaßte der Schweizer. Doch politisch neutral bleiben heißt nicht farblos oder langweilig sein: Morins kurzer Rückblick in die turbulente Vorgeschichte der Confoederatio Helvetica zeigte, wie verletzlich und von Rückschlägen bedroht demokratische Prozesse sind.

Die politische Luft Europas war in jenen späten 1840er Jahren aufgeladen mit neuen Energien, die sich alle in Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung, freier Meinungsäußerung und Gewaltenteilung Luft gemacht hatten. Der Siegeszug der Demokratie habe in Deutschland sehr viel länger gebraucht als in der Schweiz. Doch jetzt gebe es allenthalben Wohlstand, gute Bildung, Arbeit, verbürgte Grundrechte.

Warum dann dieser Frust und dieses Unbehagen, das sich in Deutschland jetzt besonders vor den Wahlen äußere? Globalisierung, Anonymisierung und eine Flut von Informationen verunsichern die Menschen. Morin hat kein Patentrezept, aber als Arzt und ehemaliger Politiker einen Therapievorschlag in vier Teilen.

Erstens: Den Zuwanderern ein Gesicht geben. "Geschichten von einzelnen Schicksalen helfen uns zu verstehen und zu helfen", sagte Morin nach der bewegenden Schilderung zur Lebensgeschichte eines seiner Patienten und dessen Familie, der aus Mazedonien stammte. Morin kritisierte zudem, dass in den Medien meist nur die "Problemfälle" aufgegriffen werden.

Zweitens: Integration der Inländer, wie die Schweizer ihre einheimische Bevölkerung nennen. Durch soziale und berufliche Einbindung der Bevölkerungsgruppen, die auf der Verliererseite stehen. "Nicht hilfreich" sei hier der Abbau von Sozialleistungen. Die "dritte Verschreibung" des Doktors galt den Trägern der Verantwortung in Politik, Verwaltung und Wirtschaft: Mehr Vertrauen durch mehr Bürgernähe. Das beginne schon mit einer "verständlichen Sprache von Angesicht zu Angesicht". "Gute Politikerinnen und Politiker halten sich häufig in ihren Wahlbezirken auf, lassen sich auf der Straße ansprechen, reagieren rasch auf Zuschriften...", eigentlich ganz einfach.

Und das letzte Rezept? Mehr direkte Demokratie, damit konnte Morin als Schweizer besonders überzeugen. Bürgerliche Mitbestimmung nur alle vier Jahre per Wahl reiche nicht. Mit einem Referendums- und Initiativrecht könne der Unmut der Bevölkerung in politisches Handeln umgemünzt werden. Viele von Struves Forderungen seien heute immer noch aktuell, auch wenn statt einer Revolution eher Verbesserungen und Reformen angesagt seien.
 

Ein Bonmot zum Schluss

"Am Sonntag haben Sie die Gelegenheit, Ihre politischen Vertreterinnen und Vertreter zu wählen. Nutzen Sie die Gelegenheit. Abstinenz oder die Faust im Sack machen ist wahrlich die schlechteste aller Varianten". (Guy Morin, ehemaliger Basler Regierungspräsident und praktischer Arzt).

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