Die Rezepte des Doktor Morin
Die Revolution war mit Struve sozusagen durch die Basler Hintertür nach Deutschland zurückgekehrt, die Schweiz hatte den Geflüchteten eine Atempause ermöglicht. Auf diese besondere Beziehung wies der Festredner des Tages, Guy Morin hin, praktizierender Arzt und ehemaliger Regierungspräsident des Kantons Basel Stadt (2009-2016). "Braucht die Patientin Demokratie neue Medikamente? Gibt es Rezepte, um die Menschen für sie zu begeistern?", das habe ihn der Lörracher Oberbürgermeister gefragt, als er ihm die Rolle des "Revolutionsredners" für diesen Tag angetragen habe, berichtete Morin.
Vermutlich habe Lutz mit der Wahl eines Schweizers verhindern wollen, dass drei Tage vor der Bundestagswahl in Lörrach eine neue Revolution angezettelt werde, mutmaßte der Schweizer. Doch politisch neutral bleiben heißt nicht farblos oder langweilig sein: Morins kurzer Rückblick in die turbulente Vorgeschichte der Confoederatio Helvetica zeigte, wie verletzlich und von Rückschlägen bedroht demokratische Prozesse sind.
Die politische Luft Europas war in jenen späten 1840er Jahren aufgeladen mit neuen Energien, die sich alle in Forderungen nach mehr Bürgerbeteiligung, freier Meinungsäußerung und Gewaltenteilung Luft gemacht hatten. Der Siegeszug der Demokratie habe in Deutschland sehr viel länger gebraucht als in der Schweiz. Doch jetzt gebe es allenthalben Wohlstand, gute Bildung, Arbeit, verbürgte Grundrechte.
Warum dann dieser Frust und dieses Unbehagen, das sich in Deutschland jetzt besonders vor den Wahlen äußere? Globalisierung, Anonymisierung und eine Flut von Informationen verunsichern die Menschen. Morin hat kein Patentrezept, aber als Arzt und ehemaliger Politiker einen Therapievorschlag in vier Teilen.
Erstens: Den Zuwanderern ein Gesicht geben. "Geschichten von einzelnen Schicksalen helfen uns zu verstehen und zu helfen", sagte Morin nach der bewegenden Schilderung zur Lebensgeschichte eines seiner Patienten und dessen Familie, der aus Mazedonien stammte. Morin kritisierte zudem, dass in den Medien meist nur die "Problemfälle" aufgegriffen werden.
Zweitens: Integration der Inländer, wie die Schweizer ihre einheimische Bevölkerung nennen. Durch soziale und berufliche Einbindung der Bevölkerungsgruppen, die auf der Verliererseite stehen. "Nicht hilfreich" sei hier der Abbau von Sozialleistungen. Die "dritte Verschreibung" des Doktors galt den Trägern der Verantwortung in Politik, Verwaltung und Wirtschaft: Mehr Vertrauen durch mehr Bürgernähe. Das beginne schon mit einer "verständlichen Sprache von Angesicht zu Angesicht". "Gute Politikerinnen und Politiker halten sich häufig in ihren Wahlbezirken auf, lassen sich auf der Straße ansprechen, reagieren rasch auf Zuschriften...", eigentlich ganz einfach.
Und das letzte Rezept? Mehr direkte Demokratie, damit konnte Morin als Schweizer besonders überzeugen. Bürgerliche Mitbestimmung nur alle vier Jahre per Wahl reiche nicht. Mit einem Referendums- und Initiativrecht könne der Unmut der Bevölkerung in politisches Handeln umgemünzt werden. Viele von Struves Forderungen seien heute immer noch aktuell, auch wenn statt einer Revolution eher Verbesserungen und Reformen angesagt seien.
Ein Bonmot zum Schluss