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Lörrach Mehr als 500 Menschen obdachlos

Die Oberbadische
Stefan Heinz (links) erläuterte im Gespräch mit Chefredakteur Guido Neidinger Zahlen und Fakten zum diesjährigen Schwerpunktthema Obdachlosigkeit und Wohnungsnot. Foto: Kristoff Meller Foto: Die Oberbadische

„Binzener Runde“: Interview mit Stefan Heinz, Leiter der AGJ-Wohnungslosenhilfe im Landkreis

Wohnungsnot und Obdachlosigkeit sind Schwerpunkt der diesjährigen Weihnachtshilfsasktion „Leser helfen Not leidenden Menschen“ des Verlagshauses Jaumann. Bei der Benefizgala „Binzener Runde“ sprach Chefredakteur Guido Neidinger in einem Interview mit Stefan Heinz. Dieser ist als Leiter der AGJ Wohnungslosenhilfe im Landkreis und des Erich-Reisch-Hauses in Lörrach ein ausgewiesener Experte zum Schwerpunktthema.

In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Obdachlosen im Landkreis Lörrach ebenso zugenommen wie die Zahl der Haushalte, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Wie sieht die Situation derzeit aus?

In den letzten Jahren haben wir ein genaueres Bild von Obdachlosigkeit und so genannten Wohnungsnotfällen erhalten. Zum einen durch eine Untersuchung des Landes Baden-Württemberg, zum anderen durch unsere präventiven Angebote in Lörrach, Weil am Rhein und im ganzen Landkreis. Nach der aktuellen Studie „Wohnungslosigkeit in Baden Württemberg“, die 2015 vom Sozialministerium veröffentlicht wurde, waren 524 Personen im Kreis obdachlos. 131 Personen wurden durch das Erich-Reisch-Haus unterstützt und 393 Personen waren von Kommunen ordnungsrechtlich untergebracht. Damit liegt der Landkreis Lörrach im Land nach den Landkreisen Reutlingen, Esslingen und Böblingen auf Rang vier von 35 Landkreisen. Von der Fachstelle Wohnungssicherung wurden nochmal 324 Haushalte erreicht, die aufgrund von Mietschulden akut vom Verlust der Wohnung bedroht waren.

Wo sehen Sie die Hauptgründe für die zunehmende Wohnungslosigkeit?

Wir haben es schon von Arno Widmann (siehe Interview in unserer gestrigen Ausgabe) gehört. Seine Einschätzung teile ich zu 100 Prozent. Die Situation auf dem Wohnungsmarkt hat ursächlich mit der zunehmenden Wohnungslosigkeit im Landkreis zu tun. Der Landkreis ist Zuzugsregion, attraktiver Wohnort und die Preisspirale dreht sich in eine Richtung nach oben. Bauen wird insgesamt immer teurer, und im Bereich sozialer Wohnungsbau herrscht weitgehend Stillstand. Selbst Haushalte mit mittleren Einkommen haben Probleme in Lörrach und Umgebung günstigen Wohnraum zu finden. Einkommensschwache Haushalte und Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten stehen derzeit vor dem fast unlösbaren Problem eine sozialhilferechtlich angemessene Wohnung zu finden.

Dabei ist das Bild des Wohnungslosen oft noch das vom „Tippelbruder“, der aus freien Stücken durchs Land zieht. Das hat sich sehr geändert. Menschen kommen immer öfter aufgrund von wirtschaftlicher Not und Verschuldung, gesundheitlichen Problemen oder in Folge so genannter Life Events wie Scheidung oder Unfällen in Notlagen. Wir hatten auch schon Manager, die wohnungslos wurden, und wir haben die Erfahrung gemacht, dass jeder Mensch in diese Notlage geraten kann. Sehr oft sind auch Familien betroffen. Dass in Baden-Württemberg etwa 3000 Kinder obdachlos sind, ist skandalös.

Genau genommen dürfte es bei uns gar keine Obdachlosigkeit geben. Die Kommunen sind verpflichtet, Menschen, die aus eigener Kraft keine Wohnung finden oder diese verloren haben, unterzubringen. Warum gibt es dennoch wohnungslose Menschen?

In Deutschland ist nach Art 1 des Grundgesetzes die Würde des Menschen geschützt. Der besondere Schutz ist im Ordnungsrecht ausformuliert, und Obdachlosigkeit ist ein ordnungswidriger Zustand. Niemand muss unfreiwillig auf der Straße schlafen. Wie bereits erwähnt waren laut einer Studie des Landes etwa 400 Menschen ordnungsrechtlich von den Kommunen untergebracht. Das sind ungefähr drei Viertel der Obdachlosen im Kreis. Die Kommunen kommen ihrer Verpflichtung durchaus nach. Allein in Lörrach sind etwas über 100 Haushalte mit circa 280 Personen untergebracht. Leider ist die ordnungsrechtliche Unterbringung oft eine soziale Sackgasse. Viele Haushalte – oft Familien mit Kindern – bleiben über Jahre obdachlos, der Zustand verfestigt sich und Resignation ist die Folge. Deshalb sind sozial integrative Ansätze so wichtig.

Sie sind seit 13 Jahren Leiter des Erich-Reisch-Hauses. Was macht das Erich-Reisch-Haus?

Das Erich-Reisch-Haus hilft Menschen in Wohnungsnot. Das heißt Menschen, die bereits obdachlos sind, genauso wie Haushalten, die akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Sozialarbeiter und Ehrenamtliche unterstützen die betroffenen Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation. Unser Ziel ist die Überwindung der Obdachlosigkeit und die Verbesserung der Lebenssituation. Dazu gehören praktische Hilfen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche aber auch weiterführende Hilfen zum Beispiel in den Bereichen Finanzen/ Schuldnerberartung. Ganz wichtig ist der Bereich Gesundheitshilfen. Im Erich-Reisch-Haus ist eine Arztpraxis für Wohnungslose tätig, viele der Menschen sind gesundheitlich angeschlagen. Für viele ist das Haus aber auch eine Hilfe zum Überleben, nicht nur in der kalten Jahreszeit. Neben der längerfristigen Begleitung betreiben wir auch eine Notschlafstelle, die jede Nacht geöffnet hat.

Wir wird Ihre Arbeit finanziert?

Da wir staatliche Pflichtaufgaben übernehmen, erhalten wir für die Betreuung und Beratung vom Landkreis und von Kommunen Vergütungssätze und Zuschüsse. Für Projekte – gerade im Bereich der Gesundheitsversorgung und der Freizeitarbeit sind wir auf Spenden angewiesen.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Städten, Gemeinden und dem Landkreis aus?

Die Zusammenarbeit ist sehr intensiv und vielfältig. In Lörrach haben wir beispielsweise im Februar begonnen, obdachlose Haushalte aufsuchend zu betreuen. Mit diesem Projekt wollen wir die Menschen unterstützen nicht zu resignieren und im Idealfall wieder einen Mietvertrag zu bekommen. Unabdingbare Voraussetzung für unsere Arbeit ist eine gute Kooperation mit den Kommunen, dem Landkreis, dem Jobcenter aber auch mit den Gerichten und den Partnern im Sozial- und Gesundheitsbereich.

Im vergangenen Jahr kamen sehr viele Flüchtlinge zu uns. Haben die von Ihnen betreuten Personen Angst, dass sie mit den Flüchtlingen um Wohnungen und Arbeitsplätze konkurrieren müssen?

Sie haben durchaus Angst, die wir ernst nehmen müssen. Unser Anliegen war und ist es, den Gedanken der Solidarität mit Flüchtlingen zu etablieren. Dazu benötigen wir persönliche Begegnung. Im Riesgässchen in Lörrach betreuen wir gemeinsam mit der Stadt Lörrach ein Haus, in dem drei ehemals Wohnungslose, drei DHBW-Studenten und drei Flüchtlinge im Rahmen der Anschlussunterbringung unter einem Dach leben. Das Modell zeigt: Das Zusammenleben gelingt. Auch haben wir uns gemeinsam mit dem Arbeitskreis Miteinander an der Woche der Begegnung in Lörrach beteiligt und gespürt, dass Wohnungslose sehr wohl Verständnis für die Situation von Geflüchteten aufbringen können. Schließlich kennen sie Not aus eigener Erfahrung.

Wie sehen Sie dieses Konkurrenz-Problem persönlich?

Ich bin der Meinung, dass beiden Gruppen gleichermaßen Unterstützung zukommen muss. Hier sind elementare Menschenrechte tangiert. Wenn es zum Beispiel um das Thema Versorgung von Wohnraum geht, sollte für Flüchtlinge gebaut werden, aber für Obdachlose in selber Weise: das eine tun, das andere nicht lassen. Ansonsten werden Neiddebatten geschürt, und das sollten wir vermeiden.

Sie leiten auch die Fachstelle für Wohnungssicherung. Was macht diese Fachstelle genau?

Die Fachstelle Wohnungssicherung hat die Aufgabe Haushalte bei drohenden Wohnungsverlusten zu unterstützen. Von den Amtsgerichten erhalten wir eine Mitteilung, wenn eine Räumungsklage wegen Mietschulden anhängig ist. Dann versuchen wir die Haushalte zu kontaktieren und prüfen, ob zum Beispiel mit Hilfe von Darlehen oder privaten Vereinbarungen wie Ratenzahlungen das Mietverhältnis gesichert werden kann. Je früher sich Haushalte melden, die merken, dass sie die Miete nicht bezahlen können, desto wirksamer kann die Fachstelle helfen. Wenn die Wohnung nicht gesichert werden kann, ist die Fachstelle behilflich Ersatzwohnungsraum zu finden und die Haushalte hier tatkräftig zu unterstützen. So ist es in den letzten Jahren bei etwa 70 Prozent der Haushalte gelungen Obdachlosigkeit zu vermeiden.

Die Obdachlosigkeit ist bei „Leser helfen“ in diesem Jahr das Schwerpunktthema. Unsere Sponsoren werden Ihnen im Anschluss an dieses Gespräch einen Scheck über 20 000 Euro überreichen. Was werden Sie mit diesem Geld machen?

Gemeinsam mit der Stadt Lörrach, der Städtischen Wohnbau Lörrach und der Katholischen Kirche planen wir ein neues Wohnprojekt in Brombach. Die Wohnbau hat das ehemalige Pfarrhaus angekauft, das die Stadt dem Erich-Reisch-Haus zur Unterbringung von Obdachlosen zur Verfügung stellt. Dieses Haus wird bald für acht Frauen bezugsfertig sein. Was fehlt ist die Möblierung, und für diese möchten wir das Geld verwenden. Die Frauen sollen in Brombach einen guten Start haben können und wir freuen uns sehr, dass Sie uns hier unterstützen. Da Frauen sehr oft „verdeckt wohnungslos“ sind, freuen wir uns, mit dem ersten solitären Frauenprojekt im Kreis zu beginnen.

Im Namen der Einrichtung bedanke ich mich von Herzen bei der Oberbadischen, allen Sponsoren und Spendern von „Leser helfen“.

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