Lörrach „Wir brauchen zusätzliche Bauflächen“

Die Oberbadische
Gudrun Heute-Bluhm: „Für mich ist das mit der größte Gewinn, den wir als ganzes Land aus den Herausforderungen des Flüchtlingsthemas ziehen: Dass Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft an einen Tisch kommen und gemeinsam an diesem Thema arbeiten.“ Foto: zVg Foto: Die Oberbadische

Interview mit Gudrun Heute-Bluhm über Flüchtlinge, Wohnungsnot und Lörrach – „ein gutes Stück von meinem Leben“

Lörrach. Gudrun Heute-Bluhm, langjährige Oberbürgermeisterin Lörrachs, arbeitet  seit  rund eineinhalb Jahren als  Geschäftsführerin des Städtetags Baden-Württemberg  in Stuttgart. Mit unserer Zeitung sprach sie über ihre  Aufgaben, den Flüchtlingsstrom, Wohnungsknappheit in den Städten und über „ihre“ Stadt: Lörrach.
 
Frau Heute-Bluhm, worin besteht Ihre Aufgabe als geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Städtetags Baden-Württemberg?

Der Städtetag Baden-Württemberg hat im Kern die Aufgabe, die Interessen seiner 184 Mitgliedskommunen gegenüber der Landesregierung zu vertreten. Die laufende Sacharbeit wird von den Fachdezernenten geleistet, etwa bei der Frage der Höhe von Sachkostenbeiträgen für Schulen oder für wie die Aufwertung der Realschulen konkret aussehen soll. Wenn es politisch wird, bringe ich mich inhaltlich in die Verhandlungen ein, derzeit vor allem bei allen Themen rund um die Flüchtlingsunterbringung. Aber auch bei strukturellen Fragen  beispielsweise verhandle ich in der letzten Phase mit dem zuständigen Minister oder Staatssekretär.
Ich habe in dieser Funktion die Chance, an der Veränderung von Gesetzen und damit der Gesellschaft mitzuwirken, ohne mich ins Getümmel der Parteipolitik stürzen zu müssen.
Ich kann auch deshalb Ergebnisse für die Städte erzielen, weil mir meine Gesprächspartner abnehmen, dass ich weiß, wie es geht. Ich komme aus der kommunalen Praxis und habe auch heute noch guten Kontakt zu dieser Ebene. Meine Erfahrungen als Lörracher Oberbürgermeisterin sind die Basis meiner Arbeit.
 

Inwieweit haben Sie sich in den vergangenen zwölf Monaten mit den Herausforderungen der Flüchtlingsthematik  beschäftigt?
Indem das Thema für die Städte an Bedeutung gewonnen hat, nahm es auch in meiner Arbeit mehr Raum ein. Bei unseren Sitzungen wurde mindestens die Hälfte der Zeit das Thema Flüchtlinge erörtert. Dabei tauschen sich die Städte zum einen darüber aus, wie sie mit dem Thema umgehen, sie wenden sich zum anderen aber auch an den Städtetag mit der konkreten Bitte um Hilfe.
 

Stichwort „Obergrenze“: An der Basis wird der Ruf nach einer Obergrenze auch bei denjenigen laut, die der Aufnahme von Flüchtlingen im Grundsatz zweifelsohne positiv gegenüber stehen. Bislang beharrt die CDU-Spitze aber darauf, dass die Angabe einer Obergrenze nicht sinnvoll sei.
Ich bin froh, dass die Kanzlerin deutlich gesagt hat, dass die Angabe einer Zahl als Obergrenze verfassungs- und völkerrechtlich nicht geht. Was die Regierung anstrebt, ist die bessere Steuerung des Zustroms, vor allem bei Flüchtlingen, die nicht wirklich asylberechtigt sind. Wir müssen von jedem Flüchtling wissen, wer im Land ist und wo er sich gerade befindet. Die Registrierung muss besser funktionieren. Wir brauchen auch dringend den Flüchtlingsausweis, der jetzt entwickelt wird. Das würde die Verfahren beschleunigen, wäre mit Blick auf Sicherheitsfragen von Relevanz und würde das Unbehagen in der Bevölkerung mindern.
Was die Kommunen verständlicherweise jetzt wollen, ist ein Signal, dass der Zustrom nicht dauerhaft so weitergeht. Die Bürgermeister wissen aber auch, dass wir nicht einfach sagen können: Jetzt ist Schluss. Diese Situation ist allerdings schwer auszutarieren.
 

Für zahlreiche Bürger ist nicht nachvollziehbar, wie viele Länder der Europäischen Union sich ganz oder weitgehend aus dieser Angelegenheit ausklinken. Und zwar nicht nur Länder wie Ungarn, sondern auch starke Partner wie unsere französischen Nachbarn.
Aus deutscher Sicht ist die mangelnde Solidarität der europäischen Partner ziemlich unerträglich, für viele unverständlich. Die Situation in Frankreich ist allerdings auch geprägt von der schwierigen Migrationspolitik im Land.  Deutschland ist nun mal das reichste Land in der EU. Wir haben sehr profitiert von der EU und gerade in den vergangenen Jahren den anderen Ländern in manch einer Frage unsere Auffassung aufgezwungen, was wir für richtig und für falsch halten: Bei den Euro-Regeln, im Umgang mit Griechenland oder industriepolitischen Prozessen ist sehr viel Einfluss von deutscher Seite ausgeübt worden. Derzeit sagen offenbar die anderen: Jetzt muss Deutschland, das zunehmend die Führung in der EU übernommen hat, sehen, wie es mit dieser großen Herausforderung fertig wird.
Ich finde diese Haltung nicht richtig und nicht gut, aber ich glaube, Denkprozesse verlaufen bei Regierungen oft wie bei ganz normalen Menschen. Wir sind in Baden-Württemberg derzeit auf einem guten Weg, gemeinsam über Parteigrenzen hinweg eine Integrationspolitik zu betreiben, die uns früher mitunter auch auseinandergetrieben hat. Ich hoffe, dass uns die Landtagswahl nicht diesen parteiübergreifenden Konsens zerreißt.
 

Die eigentlichen Integrationsaufgaben kommen ja erst noch: Bildung, Wohnungen, Infrastruktur. Sehen Sie Städte und Gemeinden hierfür angemessen finanziell ausgestattet?
Das ist derzeit der wichtigste Part meiner Arbeit. Ich sitze im Schnitt jeden zweiten Tag mit Vertretern von Regierung und Ministerien zusammen, um die finanzielle oder strukturelle Seite der Anschlussunterbringung aufzuarbeiten.
Etliche Kosten, die bislang ausschließlich von den Städten getragen wurden, müssen künftig anders organisiert werden. Wir brauchen eine integrationspolitische Strategie, die zielführend und für die Städte bezahlbar ist, das betrifft auch und gerade das Thema sozialen Wohnungsbau. Das Land muss die Städte dabei unterstützen. Bei anderen Aufgaben werden wir auch die Hilfe des Bundes brauchen.


Sie haben als Oberbürgermeisterin von Lörrach das Thema Bürgerbeteiligung gefördert. Wie sehen Sie diese enorme Bereitschaft der Bürger, bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage zu helfen?
Ich war und bin noch immer unglaublich beeindruckt, mit welchem Engagement sich die Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen. Für mich ist das mit der größte Gewinn, den wir als ganzes Land aus dieser Herausforderung ziehen: Dass Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft an einen Tisch kommen, gemeinsam an einem Thema arbeiten – tendenziell Links orientierte, aus christlichen Motiven heraus motivierte Bürger, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, Vereine und Leute, die bisher überhaupt nicht politisch engagiert waren, und zwar im Grunde über alle Altersgruppen hinweg. Ich behaupte, dass dieses Miteinander den gesamten Staat gesellschaftlich weiterbringt – und zwar auch auf lange Sicht.
Das treibt auch mich an, mehr zu tun, als das, was ich tun müsste, um der klassischen Aufgabe des Städtetags gerecht zu werden.

Die Städte verzeichnen kontinuierlich Zuzug, die Wohnungsknappheit verschärft sich mancherorts empfindlich. Die Einwohnerzahlen im ländlichen Raum gehen in Baden-Württemberg mancherorts zurück. Was bedeutet das für die künftige Stadt-Land-Beziehung?
Das ist ein spannendes Entwicklungsfeld, das in der Tat nicht auseinanderdriften darf. Tatsächlich gibt es im östlichen Teil des Bundeslandes auch Regionen, die schrumpfen. Städte und Gemeinden sehen in der proportionalen Verteilung der Flüchtlinge die Möglichkeit, um damit das Entwicklungspotenzial kleinerer Kommunen zu verbessern. Unterdessen sind die großen Städte froh, wenn sie nicht alle Flüchtlinge aufnehmen müssen, weil das deren Systeme überfordern würde.
 

Wie können Städte mit dem Wohnungsdruck umgehen?
Wenn wir das Ziel nicht aufgeben wollen, Fläche und Natur für unsere Nachkommen zu erhalten, müssen wir verdichtet bauen und zwar auch in kleineren Orten. Dieser Erkenntnisprozess ist durchaus schmerzhaft, sowohl für Kommunen als auch für eine nennenswerte Anzahl von Bürgern. Man darf nicht vergessen, dass mit der Akzeptanz dieser Tatsache ein Stückweit für viele auch die Aufgabe eines Traums verbunden ist. Das frei stehende Einfamilienhaus mit Garten, das Statussymbol der Elterngeneration, ist heute für eine Menge Menschen vor allem im urbanen Raum nur noch schwer zu finanzieren.
Andererseits suchen immer mehr Menschen die Vorteile der Städte: kurze Wege, Kinderbetreuung, kulturelles Angebot. Und sie sind bereit, hierfür auf Raum zu verzichten. Die Zuzugsdynamik hat in Lörrach nicht allein durch den Basler Arbeitsmarkt, sondern auch durch solche Angebote Fahrt aufgenommen. Natürlich muss das Verdichten mit Qualität einhergehen. Dennoch: Wir werden zusätzliche Flächen brauchen, unter Wahrung der Naturschutzflächen und anderer Schutzgebiete. Darin sind wir uns mit dem Land im Prinzip auch einig.
 

Ohne den Wert der Naturschutzgebiete schmälern zu wollen: Sobald Bauland als Habitat bestimmter Tierarten gilt, wird’s mit dem Bauen schon schwieriger. Angesichts der Wohnungsnot im urbanen Raum sind diese Konsequenzen wohnungssuchenden Menschen nicht ohne weiteres zu vermitteln.
Naturschutzfragen sind mir sehr wichtig, aber ich sehe – übrigens im Einverständnis mit Bürgermeistern eher „grün“ orientierter Städte – dass wir diese Debatte offen und ehrlich führen müssen. Wenn wir eine starke Siedlungsentwicklung brauchen, um Menschen ein Dach über den Kopf zu geben – und das war in den vergangen Jahren noch nicht so vordringlich – muss man Abwägungsprozesse bei Naturschutzthemen in die Debatte einbinden und ergebnisoffen diskutieren.
 

Veränderte Rahmenbedingungen erfordern beim Thema Bauen gewissermaßen eine Änderung des gesetzlichen Rahmens?
Nehmen wir das Beispiel Windkraft. Stark vereinfacht könnte man sagen: Konservative sind gegen Windkraft, Grüne für die Windkraft. Und wenn man für Windkraft ist, müssen Regionalpläne und Bebauungspläne verändert werden. Doch dann hat man in etlichen Fällen bemerkt, dass sich die eigenen Belange quasi konterkarieren: Arten- und Vogelschutzthemen standen plötzlich der Umsetzung von Windkraftanlagen entgegen. Hierdurch ergeben sich andere Abwägungsprozesse.
Beim Wohnen galt bisher, dass die Städte zusätzliche Flächen nicht unbedingt brauchten. Nun brauchen viele Kommunen diese Flächen selbst dann, wenn sie sich beschränken und verdichten. Die Frage ist, wie wir solche Herausforderungen konstruktiv lösen können.
 

In Lörrach wird die Debatte um Tempo 30 sehr kontrovers geführt. Sie grenzt mitunter an Grabenkämpfe. Wie wird das in anderen Städten gehandhabt?
(lacht). Ich bin ganz froh, dass ich bei bestimmten Themen nicht mehr jede Alltagsnuance verfolgen muss.
 

Sie können heute im Gegensatz zu früher gewissermaßen ausschließlich als Privatperson durch Lörrach gehen. Hat sich Ihr Blick auf die Stadt verändert?
Zunächst mal wird mir immer wieder deutlich, wie gerne ich hier bin, wie sehr ich an dieser Stadt hänge. Diese Stadt ist ein gutes Stück von meinem Leben, und das ist mir in den vergangenen Monaten noch deutlicher geworden als es ohnehin schon war. Ich beobachte auch mit Interesse, wie sich die Projekte entwickeln, von denen ich ja viele begonnen oder mit angestoßen habe.
 

Lörrach bleibt auch in Stuttgart „Ihre“ Stadt?
Absolut, das ist überhaupt keine Frage.
 

Wurden Sie verpflichtet, in Stuttgart auf Württemberger Wein umzusteigen?
(lacht). Ich probiere württembergischen Wein gelegentlich, weil ich den hier nie getrunken habe. Aber jetzt kommt’s: Ich habe badischen Wein aus dem Markgräflerland in der Stuttgarter Geschäftsstelle eingeführt. Das heißt: Dort wird badischer Wein ausgeschenkt, und ich verschenke badischen Wein in Württemberg!
 

Das geht?!
Das geht: Die wissen doch, wo ich herkomme! 

Die Fragen stellte Bernhard Konrad

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