Von Dorothee Philipp Neuenburg am Rhein. Tomi Ungerer hat die Gutedelgesellschaft einiges an Nerven gekostet, bis sie ihn endlich in die Liste ihrer Preisträger einreihen durfte. Es muss nach Laudator Christoph Wirtz ein ziemlicher Kraftakt gewesen sein, den großen Zeichner, Illustrator und Schriftsteller ins südbadische Grenzland nach Neuenburg einzuladen. Doch jetzt hat es geklappt: Zur 20. Preisverleihung war er da. Ungerer war mit einem kleinen „Hofstaat“ von Freunden angereist, unter ihnen der Direktor des deutsch-französischen Kulturzentrums Karlsruhe, Robert Walter, dessen Vermittlung den Besuch letztendlich ermöglicht hatte. Mit dabei waren auch der französische Generalkonsul für Baden-Württemberg, Nicolas Eybalin, der ein brillantes Statement zur politischen Rolle Badens und des Elsass abgab, und die Wirtin des Münstertäler Restaurants „Spielweg“, in dem sich Ungerer regelmäßig aufhält, Josephine Fuchs, seine „Futterhexe“. Auch sonst war einiges anders als bei den anderen Gutedelpreisen. Rotwein aus dem Bordeaux statt Gutedel trank der prominente Gast, der mit seinem Freundeskreis auf der Bühne Platz genommen hatte. Als „Teil der Inszenierung“ durfte er auch rauchen. Später ließ er sich aber gerne ein Gläschen aus dem Preisfass schmecken, um mit dem Stifter und dem Laudator anzustoßen. Tomi Ungerer ist wahrhaftig ein kreativer Eigensinniger, der zu seinen Überzeugungen steht, auch wenn er damit aneckt wie mit seinen erotomanischen Zeichnungen, die ihm in den USA eine Zensur beschert haben. Oder mit der Feststellung, er habe kein Vaterland. Einfühlsam und mit dem gewohnten sprachlichen Schliff ließ Wirtz die wichtigsten Stationen von Ungerers Vita Revue passieren, ein literarisches Schmankerl mit Hörbuchqualität statt eines dürren Wikipedia-Abklatschs. Ein Interview als Monolog Das Interview, mit dem Wirtz seine prominenten Gäste zuverlässig zum Sprechen bringt, bestritt Tomi Ungerer weitgehend allein, es sprudelte nur so aus ihm heraus. Als alter Mann sei er um neun Uhr im Bett, und jetzt sei er hier in einer Traumwelt gelandet. Zuerst mit seinem Lieblingswein, dann mit seinen Lieblingsfreunden und mit seinem Lieblingslied – der Freiburger Jazzchor hatte zuvor eine tolle Version von „Die Gedanken sind frei“ angestimmt. „Ich spüre die Menschenwärme, diese Freude, wie sie funkelt“, ruft Ungerer gerührt in den Saal. Das Elsass: seine „Wurzelheimat“, die zweite Liebe: Irland, weil da die Menschen so wenig arrogant sind. Seine dritte Heimat: das Spielweg. Bewegt dankt er für die wunderbare Atmosphäre im Saal, das gebe es nur am Oberrhein. Menschlich, warmherzig, schalkhaft und witzig erlebt man den alten Mann, der Groß und Klein mit seinen Bildern verzaubert und den Kindern in seinen Bilderbüchern ein neues Selbstbewusstsein vermittelt. Dann ein glühendes Plädoyer für Stolz und Ehre, zwei Eigenschaften, die jeder Produzent von Waren, vor allem aber von Lebensmitteln haben sollte. Menschen mit „Produktstolz“ haben nach Ungerer Respekt vor sich und ihren Mitarbeitern, auch vor den Tieren. „Es wäre toll, so einen Stolz in der Politik zu haben“, ereifert er sich, das Publikum klatscht. 40 000 Zeichnungen und 140 Bücher Die kleine Zeremonie, in der Hermann Dörflinger den Gutedel aus dem Fass in den Schlauch saugt, war wieder ein kurzer, aber wichtiger Bestandteil der Gesamtliturgie. Bevor es zum deftigen „Spielweger Vesper“ ging, ließ Matthias Deutschmann, einer der Gründerväter der Gutedelgesellschaft, schließlich zum runden Geburtstag des Preises ein paar Stationen Revue passieren. Zum großen Umarmungskino wurde die Schlussszene, in der der Jazzchor noch einmal „Die Gedanken sind frei“ anstimmte, diesmal mit dem Grandseigneur, der mit dem Gehstock mitdirigierte. Die Preisstifter hatten auch diesmal nicht nur mit einer exzellenten Tontechnik, sondern auch wieder mit einem tollen Bühnenbild für die richtige Umrahmung gesorgt: Eine Porträtcollage mit dem Gesicht und dem Autogramm des großen Zeichners in Breitwandformat. Eingestimmt auf den Abend hatte ein Kurzfilm zu Ungerers Werk mit rasanten Schnitten und spannenden Spotlights, denn anders lässt sich dieses immense Lebenswerk kaum fassen: 40 000 Zeichnungen, 140 Bücher, Architektur, Filme, Zitate, Werbegrafiken und vieles mehr.