Von Dorothee Philipp Neuenburg/Freiburg. Eigentlich sollte am Dienstag im Freiburger Landgericht das Urteil im so genannten Lynchmord-Prozess von Neuenburg gesprochen werden. Aber noch immer ist es schwierig, den jeweiligen individuellen Anteil an der Schuld der vier Angeklagten der Mordtat genau zu ermitteln. Es sind noch weitere Vernehmungen erforderlich, so dass mit einem Urteil erst am 7. Dezember zu rechnen ist. Derzeit beträgt die Liste der möglichen Zeugen 55 Personen. 9 Uhr am Dienstag im Gerichtssaal IV: In den Zuschauerreihen sitzen einige Verwandte der Angeklagten, zwei Rentner, die den Prozess bisher lückenlos verfolgt haben, einige Pressevertreter, ein Aufsichtsbeamter in Zivil. Die Anwälte ziehen ihre Roben an, dann geht die Tür auf und die drei Angeklagten, die in Haft sind, kommen in Begleitung von drei uniformierten Justizbeamten, die ihnen die Handschellen abnehmen und sich dann an der Tür und am Fenster postieren. Bemerkenswerte Emotionslosigkeit Dem 19-jährigen Hauptangeklagten, gepflegt, mit smarter Frisur und smartem Lächeln, im Trainingsanzug, sieht man die über einjährige U-Haft nicht an. Entspannt unterhält er sich mit seinem Anwalt. Schon bei seiner Verhaftung berichteten die Beamten von einer bemerkenswerten Emotionslosigkeit. Anders sein Vater, der ihn zum Tatort gefahren haben soll: Der schmale 49-Jährige sieht gestresst und übermüdet aus, sinkt zwischen seinem Sohn und seinem Dolmetscher auf den Stuhl. Bleich und gefasst wirkt der 21-jährige Freund, der das Opfer festgehalten haben soll, während die ersten Messerstiche auf es einprasselten. 23 waren es, wie sich bei der Obduktion später herausstellte, der 27-Jährige verblutete noch am Tatort in der Nähe des Pendlerparkplatzes am Alten Zoll bei Neuenburg. Der 20-jährige Freund, der das Opfer in die Falle gelockt haben soll mit dem Versprechen, er habe Drogen zu verkaufen, ist zwar nicht in Haft, weil er noch bevor die Gewalttat eskalierte, die Flucht ergriffen hat. Doch er scheint am schwersten gezeichnet: Fast teilnahmslos sitzt er neben seinem Anwalt, die Augen halb geschlossen, er hat starkes Übergewicht und muss Medikamente nehmen. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt an diesem Morgen die Schwester des Getöteten, die zusammen mit den Eltern als Nebenklägerin auftritt. Ihr Gesicht ist versteinert, sie kommuniziert auch nicht mit ihren Anwälten. An diesem Morgen geht es darum, was die beiden Polizeibeamten wahrgenommen haben, als der 19-Jährige bei seiner Ankunft im Freiburger Kriminalpolizeirevier am Tag nach dem Mord auf dem Gang seinen Vater als Verhafteten gesehen hat. Beide Beamte können sich nicht an eine extreme emotionale Reaktion erinnern. Dem entgegen steht der Vorwurf des Verteidigers, sein Mandant hätte von der Verhaftung seines Vaters nichts gewusst und hätte einen solchen Gefühlsausbruch erlitten, dass ihm die Beamten den Mund zugehalten haben sollen. Nichts davon können die beiden als geladene Zeugen bestätigen. Kleidung des Mordopfers als Beweismittel Ein beklemmender Moment an diesem Morgen ist der, als der Richter zwei braune Papiertüten der als Sachverständige auftretenden Gerichtsmedizinerin aushändigt. Darin sind die Jacke und das T-Shirt des Mordopfers als weitere Beweismittel, die jedoch an diesem Verhandlungstag glücklicherweise nicht benötigt werden. „Kein schöner Anblick“, wird später einer der Anwälte in einer Prozesspause sagen. Der Rest des Vormittags gehört der Auswertung verschiedener Kommunikationsprotokolle, die von den Handys der Schwester und der Mutter des jüngeren Angeklagten sowie von dessen Freundin stammen. Die Beisitzende Richterin verliest mit monotoner Stimme die Protokolle, die zum größten Teil aus Daten und Zahlen sowie bis auf die Sekunde präzisen Uhrzeiten bestehen. Auch die Emoticons, Sternchen und Leerzeichen gehören zu dieser Litanei, die in ihrer Unpersönlichkeit den Countdown bis zur Tatzeit noch unheimlicher macht. Handys offenbaren unheimlichen Countdown Nur bruchstückhaft blitzen in diesen ansonsten wie schlichte Allerwelts-Chats klingenden Dialogen Andeutungen auf („hast du es gemacht"“ - „er kann nicht so weit sein“). Der Chat des 19-Jährigen mit der Freundin, der sich über mehrere Tage und Nächte hinzieht und am Tattag gegen Mittag endet, zeigt, dass der Jugendliche, der die mutmaßliche Vergewaltigung seiner Schwester durch das spätere Mordopfer rächen wollte, unter großem emotionalen Stress stand („ich platze gleich“) und offenbar kaum gegessen und geschlafen hat. Am Ende der Verlesung lässt er seinen Anwalt öffentlich eine Entschuldigung an den mitangeklagten und verhafteten 21-jährigen Kumpel richten: Es tue ihm leid, dass er ihn da mit reingezogen habe. Der Anwalt des Vaters möchte die Schuldfrage in der mutmaßlichen Vergewaltigung thematisieren: Die Tochter seines Mandanten sei durch Presseberichte diffamiert worden, die unterstellten, es sei bei dieser Szene nichts von strafrechtlicher Bedeutung passiert. Demgegenüber stünden aber die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung der jungen Frau sowie die Aussage eines Mannes aus Niederweiler, dem das spätere Mordopfer von der Vergewaltigung erzählt haben soll. Das sei jetzt nicht mehr aufklärungsbedürftig, befanden der Staatsanwalt und die Anwälte der Nebenkläger. Jetzt liegt es am Gericht, zu prüfen, ob dieser Punkt noch einmal thematisiert werden soll. Der nächste Verhandlungstag ist am 9. November.