Weil am Rhein „Sie müssen ihren Platz erst finden“

Weiler Zeitung
Anu Karjalainen an ihrem Arbeitsplatz im Rathaus. Foto: Carina Stefak Foto: Weiler Zeitung

Interview: Flüchtlingskoordinatorin Anu Karjalainen über Migration, Identität und die Rolle der Gesellschaft

Die eigene Wohnung, ein Sprachkurs, eine Alltagsbegleitung, die Einschulung der Kinder, ein Praktikum oder eine Ausbildungsstelle: Wer in Weil am Rhein angekommen ist, hat nur grobe Vorstellungen vom Leben hier. Flüchtlingskoordinatorin Anu Karjalainen ist bei der Stadt die Ansprechpartnerin und erleichtert den Schutzsuchenden die ersten Schritte, um sich in Deutschland zurecht- und einen Platz in der Gesellschaft zu finden.

Als gebürtige Finnin leben Sie seit zwölf Jahren im deutschsprachigen Raum. Seit anderthalb Jahren sind Sie in Weil – wie gefällt es Ihnen in der Grenzstadt?

Ich fühle mich hier sehr wohl. Nachdem ich 2004 als Erasmus-Studentin nach Deutschland gekommen bin, habe ich lange in Berlin gelebt. Im Rahmen meiner Dissertation habe ich für internationale Institutionen gearbeitet und hatte ständig Sitzungen irgendwo in Europa. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich in einer so kleinen Stadt ebenso wohlfühlen könnte.

Als Flüchtlingskoordinatorin sind Sie die Schnittstelle zwischen Schutzsuchenden, Verwaltung und Bürgern. Welche Aufgaben haben Sie konkret?

Wenn wir neue Flüchtlinge zur Anschlussunterbringung bekommen, bin ich die erste Ansprechpartnerin. Ich gebe sozusagen die Wohnungsschlüssel heraus. Wenn sich die erste Aufregung gelegt hat, gebe ich ihnen alle wichtigen Infos zu Wohnung, Sprachkursen und weiteren Angeboten. Bei den Kindern stellen wir den Kontakt zur Schule her. Dann ist es wichtig, abzuklären, ob die Menschen Alltagsbegleitung brauchen, und dies an die Ehrenamtlichen im Willkommenskreis weiterzugeben, damit sie gegebenenfalls Kontakt aufnehmen.

Zur Integration gehört auch die Eingliederung in den Arbeitsmarkt.

Genau. Wir schauen, welche Perspektiven die Menschen haben und ob es Möglichkeiten für ein Praktikum oder eine Ausbildung gibt.

Wie sind Ihre ersten Erfahrungen im Innern des Rathauses und im Umgang mit den Flüchtlingen?

Ich habe noch nie in einer deutschen Verwaltung gearbeitet und muss daher noch viel lernen, gerade was die Zuständigkeiten angeht, aber auch mit Blick darauf, was die Flüchtlinge selbst erledigen müssen. Bislang habe ich noch nicht viele getroffen, aber von denen, denen ich begegnet bin, kann ich sagen, dass sie sehr offen sind. Das sind Menschen wie du und ich, die in einer schwierigen Situation sind und ihren Platz in Deutschland suchen.

Persönliche Begegnungen vermitteln ein differenzierteres Bild als die Wahrnehmungen der Flüchtlingsthematik durch Medien?

Wenn in den Nachrichten darüber berichtet wird, sieht man nur die Masse, die zu uns kommt. Aber dahinter stecken persönliche Schicksale von Menschen, die einfach Pech hatten. Menschen, die Träume und Pläne gehabt haben, so wie wir sie auch haben. Nun müssen sie ihr Leben neu organisieren.

Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit Migration, Mehrsprachigkeit und Identität befasst – ein Thema, das aktueller denn je ist. Welche Auswirkungen hat Migration auf die Identität eines Menschen?

Wir dürfen nicht glauben, dass wir mit Sprachkursen und Integrationsmaßnahmen das Denken und Fühlen der Menschen komplett verändern können. Man kann die vorangegangenen Jahre nicht löschen, die Vergangenheit wirkt immer in die Gegenwart hinein. Diese Menschen bringen sehr viel mit, sprachlich und auch kulturell. Die Flucht aus der Heimat und das Ankommen in einem fremden Land sind eine große Veränderung: Es funktioniert nichts mehr so wie man es gewohnt ist, man hat nicht mehr denselben Status und muss seinen Platz in der Gesellschaft erst finden. Aber wir können diese Menschen integrieren, und diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehren, werden wiederum etwas mitnehmen und nicht mehr dieselben sein.

Wie wirkt sich Migration auf die Gesellschaft aus? Diesbezüglich sind die Ängste in der Bevölkerung groß.

Die Ängste sind in den Köpfen der Menschen, dabei haben die meisten, die sich Sorgen machen, noch gar keinen direkten Kontakt mit Flüchtlingen gehabt. In der Realität muss man nicht viel mit Flüchtlingen zu tun haben, wenn man das denn nicht möchte. Aber natürlich wird die Stadt bunter, wenn diese Menschen dauerhaft bleiben. Ob sich aber die Gesellschaft verändert und sich Wertekonstrukte verschieben, hängt entscheidend davon ab, wie gut wir die Menschen integrieren und sie ein Teil unserer Gesellschaft werden lassen. Ich lebe seit zwölf Jahren in Deutschland. Ich werde immer eine Finnin bleiben, trotzdem kann ich in diesem Land leben, arbeiten und ein Familienleben pflegen. Ich kann mich in der Gesellschaft einbringen und dazu beitragen, dass das Miteinander funktioniert.

Wo Zuwanderung ist, ist auch Skepsis und sogar Abneigung. Das spüren wir in Deutschland zunehmend, rechtspopulistische Strömungen werden stärker. Umfragen zufolge liegt die AfD bei zwölf Prozent. In Ihrer Heimat ist das kein neues Phänomen: In Finnland ist die rechtspopulistische Partei „ Perussuomalaiset“ Teil der Mitte-Rechts-Regierungskoalition. Bei den Parlamentswahlen 2011 erhielt sie 19 Prozent der Stimmen und ist somit drittstärkste Partei. Sehen Sie Parallelen?

Deutschland ist seit den 60er Jahren mit Migration vertraut. In Finnland haben sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt, dass es dort inzwischen viele Menschen gibt, die eine andere Sprache sprechen und anders aussehen. Den Finnen geht es schon seit einigen Jahren wirtschaftlich schlecht, die Arbeitslosenquote steigt und die Zukunftsperspektiven sind nicht rosig.

Dazu kommt die hohe Zahl an Flüchtlingen, die aufgenommen werden müssen. Das führt zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die Linken beschimpfen die Rechten als fremdenfeindlich, die Rechten wiederum sagen, sie seien blauäugig, würden die ganze Welt umarmen und Integrationsprobleme verharmlosen. Zu kurz kommt die vernünftige Gruppe, die anerkennt, dass der Zustrom an Menschen natürlich Konfliktpotenzial birgt, aber auch aufsteht, um es anzupacken, damit die Probleme gelöst werden. Diese Diskussion fehlt in Finnland derzeit.

... und Unterschiede?

Der größte Unterschied ist meiner Meinung nach, dass es in Deutschland eine klare Haltung gegen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gibt und auch politisch Stellung bezogen wird. In Finnland wird das nicht so deutlich geäußert. Dort hat man Angst davor, „Rechtsextremismus“ zu benennen. Auch insgesamt ist die Stimmung hier freundlicher und die Hilfsbereitschaft sehr groß. Klar gibt es in Finnland auch Kleiderspenden, aber kein so professionelles Netzwerk an Ehrenamtlichen, die sich vielfach einbringen und die Verwaltung der Kommunen in diesem Maße unterstützen wie in Deutschland.

  Die Fragen stellte Carina Stefak

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