Arbeiteraufstand 1923 Verbitterung schlägt in Gewalt um

Hubert Bernnat
Während der Unruhen ist die Schutzpolizei im Einsatz, die den zentralen Übergang Wallbrunn-/Bahnhofstraße durch Barrikaden und Stacheldraht sichert. Gleichzeitig werden wichtige Gebäude wie Post, Rathaus und Bezirksamt geschützt; links der Ausschank der Brauerei Reitter, heute C& A. Foto: StA Lörrach 2.65.51v

Die Streiks und Unruhen unter den Arbeitern in Lörrach rief die Polizei auf den Plan. Erst recht, nachdem fünf junge Brombacher, die der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) nahestanden, aus dem Gefängnis befreit worden waren.

Den Ausschlag für die Unruhen hatte die Unzufriedenheit der Arbeiter mit ihrem Lohn gegeben.

Montag, 17. September

Am frühen Montagmorgen, 17. September 1923, konnten die Polizeikräfte ohne Schwierigkeiten Lörrach erreichen und die Verhaftung der Gefangenenbefreier vornehmen. Auch die Abriegelung wichtiger Gebäude in der Innenstadt war vollzogen, bevor die ersten Frühzüge in Lörrach eintrafen. Belchen-, Bahnhof- und Wallbrunnstraße waren mit doppelten Stacheldrahtverhauen und Maschinengewehrstellungen versehen. Die Züge mit Arbeitern aus Richtung Basel und Weil fuhren direkt am verbarrikadierten Bezirksamt vorbei, sodass sich die Nachricht schnell verbreitete. Für die Arbeiterschaft musste sich ein fatales Bild ergeben: das Bild einer üblen Kumpanei von Staat in Person des sozialdemokratischen Innenministers Adam Remmele mit den Lörracher Industriellen. Eine unglaubliche Verbitterung machte sich breit, die auf dem Hintergrund der existenziellen Not in unkontrollierte Gewalt umschlug. Das Bezirksamt versuchte erfolglos, mit Plakatanschlägen die Arbeiterschaft zu beruhigen.

Sofort wurde der Generalstreik ausgerufen, das Geschehen verbreitete sich in Windeseile über Zell und Rheinfelden hinaus. Viele Arbeiter strömten von außerhalb nach Lörrach, der Zugverkehr war deshalb unterbrochen worden. Wieder befanden sich Tausende in der Innenstadt. Es begann zunächst mit wüsten Beschimpfungen der Polizei und tumultartigen Aufläufen. Die ersten Schüsse fielen, Steine wurden geworfen. In ohnmächtiger Wut versuchte man Barrikaden wegzureißen. Die Polizei gab Warnschüsse ab. Hauptforderung der erregten Menge, aber auch der Arbeitervertreter, war zunächst der Abzug der Schutzpolizei, deren massive Anwesenheit zur angeblichen Verhaftung der Gefangenenbefreier als besonders provokativ empfunden wurde.

Gegen 11 Uhr an diesem Montag erreichten diesmal 2000 mit Knüppeln und Stangen bewaffnete Bauarbeiter aus Weil über den Eisenbahntunnel die Innenstadt, nachdem ihre Lohnforderungen abgelehnt worden waren. Einige der Demonstranten hatten sich mit Gewehren und selbst gebastelten Handgranaten aus gestohlenem Sprengstoff bewaffnet.

Als nun versucht wurde, Barrikaden einzureißen, eröffnete die Polizei das Feuer mit Maschinengewehren. Die Bilanz: Ein Demonstrant wurde sofort getötet, elf weitere schwer verletzt, zwei von ihnen starben in den nächsten Tagen. Zudem gab es viele leichter Verletzte, nicht alle konnten im Krankenhaus behandelt werden. Die Demonstranten hatten eine eigene Sanitätsstation eingerichtet.

Sie befand sich in der Turnhalle des heutigen HTG. Die Polizei hatte keine Verletzten.

Auch in den umliegenden Amtsbezirken brodelte es. Doch die Polizei konzentrierte sich auf Lörrach.

Die Kommunisten versuchten durch Kuriere das Umland in Bewegung zu versetzen. Es folgten Schießereien zwischen Polizei und Demonstranten bis spät in die Nacht. In der Chronik des HTG ist zu lesen: „Nach Einbruch der Dunkelheit durfte niemand auf die Straße. Die Bevölkerung war praktisch einige Tage der Straße ausgeliefert. Die Behörden waren durch Stacheldraht von der Bevölkerung getrennt. Auf die Schüler machte der Aufstand einen ungeheuren Eindruck. Die jüngeren weinten, die älteren waren Zeugen einer Revolution. Nachts brannte kein Licht. Manche Familien lebten im Keller. Das Wasser mußte an den öffentlichen Brunnen geholt werden.“ In den Abendstunden wurden sogar Geiseln genommen, der Fabrikant Albert Vogelbach wurde dabei schwer misshandelt und starb an den Folgen.

Für einige Kommunisten war jetzt offensichtlich eine revolutionäre Situation entstanden. Bewaffnete „proletarische Hundertschaften“ als „Massenselbstschutzorganisation des revolutionären Proletariats“ wurden aufgestellt, Waffen von außerhalb in die Stadt gebracht. Was hier offizielle Parteilinie respektive das Vorgehen einzelner war, lässt sich schwer entscheiden. Dass aber insgesamt Kommunisten an diesem Montag zur Aufheizung der Stimmung beigetragen haben, ist erwiesen. Auf der anderen Seite muss man aber auch das Verhalten des Landtagsabgeordneten Max Bock deutlich als Versuch der Deeskalation bewerten. Auch der hiesigen KPD-Führung war der Einfluss auf Teile der Protestbewegung entglitten. Es gibt allerdings glaubwürdige Berichte, dass auch rechtsradikale Provokateure eine Rolle gespielt haben.

Besonnene Kräfte

Dass in dieser Situation montags in den späten Nachmittagsstunden Arbeitgeber und Gewerkschaften zu erneuten Verhandlungen zusammentraten, ist den besonnenen Kräften auf beiden Seiten zu verdanken. Mitten im abgesperrten Gebiet, im Saal der Brauerei Reitter (heute C&A), wurde getagt. Gegen 20 Uhr konnte man ein Ergebnis verkünden, das nicht wesentlich von der Vereinbarung vom Freitagabend abwich. Statt 50 sollten nur 25 Franken Wirtschaftsbeihilfe gezahlt werden, dafür aber im gleichen Wert Naturalien, vor allem Lebensmittel. Nicht geklärt war allerdings die Präsenz der Schutzpolizei.

Dienstag, 18. September

Am Dienstag, 18. September, wurde der Ausnahmezustand über die Amtsbezirke Lörrach, Schopfheim, Schönau und Säckingen verhängt. Versammlungen und Aufrufe waren verboten. Die Polizeistunde wurde auf 21 Uhr festgelegt. Die Regierung stellte auch den Bahnverkehr nach Lörrach ein, um weiteren Zuzug zu unterbinden. Die Polizeikräfte waren weiter verstärkt worden. Im Laufe des Vormittags wurde das Gebiet um Lörrach nach verschleppten Geiseln abgesucht, Waffen beschlagnahmt und etwa 300 Verhaftungen vorgenommen. Rund 200 Verhaftete wurden allerdings in den nächsten zwei Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Stadt blieb ruhig, die Geschäfte allerdings zu und die Lokalzeitungen konnten die ganze Woche nicht erscheinen.

Trotz der Lohnvereinbarung blieben zwei drängende Probleme: die Versorgung der Bevölkerung und die Anwesenheit der Schutzpolizei. An diesem Dienstag hatte sich ein Aktionsausschuss aus Vertretern der Betriebsräte, Gewerkschaften und beider Arbeiterparteien gebildet.

Federführend traten Kieslich und Bock auf. Sie erklärten: „Ein Verbrechen ist begangen worden. Über die ruhige Bevölkerung, die nach der Bewilligung ihrer aus der Not geborenen Forderungen die Arbeit wieder aufgenommen hatte, ist der Kriegszustand verhängt worden … Es regiert die nackte brutale Militärgewalt. Arbeiter, die Arbeit ruht im ganzen Bezirk Lörrach und den angrenzenden Bezirken weiter. Die Einheitsfront des Proletariats ist zur Wirklichkeit geworden. Arbeiter wahrt diese geschlossene Kraft. Unterlaßt persönliche Akte, deren Auswirkung die Durchsetzung unserer Forderung auf Abzug der Besetzung nur erschweren kann.“

Mit diesem Aktionsausschuss schienen die Arbeitervertreter die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Der Ausbruch neuer Unruhen in der Stadt konnte verhindert werden. Der Streik sollte aber bis zum Abzug der Polizeikräfte fortgesetzt werden, Banken und Geschäfte und selbst Wasser- und Elektrizitätswerk waren stillgelegt.

Als die umliegenden Bauern drohten, Lörrach von der Lebensmittel- und besonders der Milchzufuhr abzuschneiden, falls Wasser und Elektrizität gesperrt blieben, drohte die Stadt in eine prekäre Situation zu geraten.

Gleichzeitig verbot das Staatsministerium dem Bezirksamt, das bisher viel zur Beruhigung beigetragen hatte, mit dem Aktionsausschuss zu verhandeln, da der Streik politisch und kommunistisch dominiert sei. Beides war nachweislich nicht richtig. Der Aktionsausschuss kümmerte sich um die Versorgung der Stadt. Die Geschäfte konnten für drei Stunden täglich öffnen, ein eigener Ordnungsdienst sollte Hamsterkäufe und Tumulte vor den Lebensmittelgeschäften verhindern. Der Leiter des Bezirksamtes Gräser hatte auch entgegen der Regierungsanweisung bereits am Dienstagabend erfolgreich mit Bock und Kieslich wegen der Inbetriebnahme von Wasser- und Elektrizitätswerk verhandelt. Auf Veranlassung des Bezirksamtes fand sogar der Markt statt.

Freitag, 21. September

Es sollte aber noch bis Freitag, 21. September, dauern, bis es zu einer Einigung über die Präsenz der Schutzpolizei kam. Innenminister Remmele nannte die Wiederaufnahme der Arbeit als Bedingung für den Abzug der Schupo.

Am Freitagnachmittag beschloss die Vollversammlung der Betriebsräte auf Initiative von Bock und Kieslich für Montag die Wiederaufnahme der Arbeit. Dies sollte als Vorleistung erbracht werden, um den Abzug der Schupo und die Aufhebung des Belagerungszustandes zu ermöglichen. Am Montag, 24. September wurde die Arbeit wieder aufgenommen, die Wirtschaftsbeihilfe in Schweizer Franken in den meisten Betrieben bezahlt. Am folgenden Tag zog die Schupo ab, der Belagerungszustand wurde aufgehoben.

Fazit und Folgen

Die Ereignisse dieser Tage haben das soziale und politische Klima in der Stadt verändert. Gräben wurden aufgerissen, die bis 1933 nicht mehr zugeschüttet werden konnten. Rückblickend bleibt zu sagen, dass es sich bei den Lörracher Unruhen um keine von langer Hand vorbereiteten Aktionen handelte. Die Unruhen entstanden vielmehr aus der existenzbedrohenden Not heraus, und das angesichts von Wohlstand nur wenige Kilometer südwärts in der Schweiz. Gewerkschaften, Arbeiterparteien und Behörden sind von den Unruhen und vor allem ihrer Wucht überrascht worden. Doch vor allem Amtsvorstand Dr. Gräser, OB Gugelmeier, aber auch einige der Unternehmen wie Friedrich Vogelbach zeigten sich in dieser Situation mutig und verantwortungsbewusst.

Die Verantwortung von Teilen der KPD setzt erst ab Montag, 21. September, ein, als sie nach Bekanntwerden des Polizeieinsatzes die Erbitterung der Menschen in revolutionäre Aktionen ummünzen wollten. Die partielle Zusammenarbeit zwischen KPD und SPD in Lörrach, vor allem zwischen Max Bock und Adolf Kieslich, endete allerdings. Diese „Einheitsfront des Proletariats“ war eine Illusion, zu unterschiedlich waren die Zeile beider Parteien.

Bleiben noch die strafrechtlichen Folgen der Unruhen. Mehr als 150 Angeklagte aus dem ganzen Oberrheingebiet mussten vor Gericht erscheinen, die Mehrzahl wurde zu harten Strafen verurteilt, es wurden vom Gericht Zuchthausstrafen bis zu acht Jahren verhängt. Verurteilt wurden auch die Lörracher KPD-ler Bock und Herbster. Gegen sie lautete die Anklage auf versuchten gewaltsamen Umsturz der Reichsverfassung. Vergleicht man die milden Urteile gegen die Kapp- und Hitler-Putschisten mit denen der September-Unruhen in Oberbaden, so kann man sich der Meinung von Hans-Peter Lux voll anschließen: „Somit dokumentiert dieses Verfahren auch ein Stück politischer Justiz in Weimar, die auf dem rechten Auge, wenn nicht völlig blind, so zumindest stark sehgeschädigt war.“

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