Es geht eng zu auf diesem Weg. Rechter Hand die steile, drei, vier Meter hohe Böschung zum Hafengelände hinauf, wo sich die Gleisanlagen, Krane, Tanks und Silos befinden. Links das betonierte, gleichfalls steile Bord zum Wasser hinunter, das, vielleicht einen Meter unterhalb der Berme, heimtückisch ruhig daliegt, denn hier, im Stausee des Kraftwerks, herrscht kaum Strömung.
Fünf vor fünf, und noch etwa zwei Kilometer bis zum „Auhafen“. Das würde eine Punktlandung werden. Tante Martha würde beeindruckt sein, wenn Urs, außer Atem, durchnässt, aber: pünktlich! auf der Matte stehen würde. Am gegenüberliegenden Ufer des Rheins sah Urs schemenhaft und bedrohlich das Grenzacher Horn aufragen. Zu dessen Füßen glitt das Lichterband eines Zuges auf der Hochrhein-Bahn vorüber.
Ultimativer Test für Leidensfähigkeit
Heiligabend, kam es Urs in den Sinn, das war zweifellos Marthas ultimativer Test für die Leidensfähigkeit der Nichten und Neffen. Wer den bestand, war würdig, in den Kreis der Erben aufgenommen zu werden. Urs schnaubte wieder. Was man nicht alles mit sich machen ließ! Dabei war er selbst heute relativ wenig betroffen. Für ihn als Single machte es keinen großen Unterschied, ob er zuerst noch diese Martha-Audienz über sich ergehen ließ, bevor er sich zu einem behaglichen Einsiedlerabend mit einem guten Buch und einer Flasche Roten in seine Wohnung zurückzog. Aber seine Cousins und Cousinen hatten Kinder, zum Teil schon Enkel – und denen klar zu machen, dass der Heilige Abend dieses Jahr anders verlaufen würde als gewohnt, das war sicher hart gewesen.
Es war der Gipfel, was die Alte dieses Jahr bot
Urs sah jetzt schon in der Ferne am Ufer Lichter, das musste der „Auhafen“ sein. Links vor sich im Wasser erkannte er die Umrisse eines Frachtkahns, der am Ufer vertäut war. Durchs Fenster der Kapitänskajüte drang gedämpftes Licht. Im Vorbeifahren hörte er Rockmusik: Chuck Berrys „Roll Over Beethoven“.
Als Urs einem Schlagloch im Asphaltbelag auswich, wurde er unerwartet und heftig von einer Windböe erfasst. Es gab kein Halten. Das Velo schoss über den Rand der Berme. Im Flug ließ Urs den Lenker los und platschte zwei Meter neben seinem Fahrrad ins Wasser. Panisch begann er zu paddeln. Er bekam etwas Metallenes zu fassen. „Festhalten!“ rief jemand. Urs fühlte, wie er an Land gezogen wurde. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder zu Bewusstsein kam, hörte er als Erstes Elvis Presley, der „In The Ghetto“ schmachtete. Urs öffnete die Augen: Er lag auf einer Art Sofa, das anscheinend zur Einrichtung einer nicht sehr geräumigen Stube gehörte. Außerdem gab es einen Tisch, zwei Stühle und ein Sideboard, darauf einen Fernseher und zwei Stereo-Boxen. Als Urs den Kopf ein wenig zur Seite drehte, erkannte er die Quelle des gedämpften warmen Lichts: ein Plüschrentier mit elektrischen Kerzen im Geweih.
Was für eine Schnapsidee
„Was für eine Schnapsidee, im Dunkeln und bei so einem Sauwetter auf dieser schmalen Piste einen Radrennrekord aufstellen zu wollen“, sagte eine sonore Männerstimme. „Du sollst dich nicht lustig machen, Willem“, erwiderte eine Frau, „ich bin immer noch sowas von erschrocken. Stell dir vor, du hättest nicht zufällig an der Anlegebrücke nach dem Rechten gesehen, als er ins Wasser stürzte – er wäre ertrunken, und morgen hätten sie ihn beim Rechen des Kraftwerks gefunden...“ „Aber ich hab’ ihn ja gesehen. Und ihn schneller wieder rausgezogen als er reingefallen ist.“
Von schräg hinten beugten sich jetzt zwei Gesichter über Urs, ein hageres, zerfurchtes mit wirrem grauem Kopfhaar und ebensolchem Bart, und ein rundes, pausbäckiges, das von einem geflochtenen Kranz aus rotblondem Haar gekrönt war. „Schau mal, unser Gast ist aufgewacht!“, freute sich die Frau.
Erst mal ’nen steifen Grog zum Aufwärmen
„Na, junger Mann, da sind Sie ja dem Teufel von der Schippe – und uns direkt in die Weihnachtsstube gehüpft. Willkommen!“, dröhnte der Mann und reichte Urs die Pranke. „Und jetzt nehmen Sie erst mal ’nen steifen Grog. Zum Aufwärmen.“ Urs nahm dankbar an. Obwohl er schon gar nicht mehr kalt hatte. Denn man hatte ihn, wie er jetzt bemerkte, in trockene Kleider gehüllt, einen Trainingsanzug und einen dicken Pullover, vermutlich Sachen des Kapitäns und Urs drei Nummern zu groß.
Eine Stunde später saß er mit Antje und Willem Niekerk am Tisch und genoss ein Fondue Chinoise. „Du musst nämlich nicht denken, dass es das nur bei euch in der Schweiz gibt“, sagte Antje. „Gezondheit!“, sagte Willem und hob das Glas mit dem Roten. Elvis rockte „All Shook Up“.
Tiere luxuriös versorgen
„Und wie erging es unterdessen deinen Cousins und Cousinen im ‹Auhafen›?“, fragte ich Urs. „Tante Martha hielt eine kurze Lesung aus einem Andachtsbuch, ehe sie Wasser, Apfelsaft und Wienachtsgutzi auffahren ließ“, erzählte Urs. „Dann eröffnete sie ihre ‹wichtige Mitteilung›. Sie sei ja nun 92 und werde, Gott sei’s geklagt, Jim und Joe vermutlich nicht überleben. Darum habe sie, wofür sie die Anwesenden herzlich um Verständnis bitte, ihr Vermögen testamentarisch dem Tierschutzverein vermacht. Mit den beiden Auflagen, erstens die beiden guten Tiere luxuriös zu versorgen, zweitens die lieben Nichten und Neffen der Erblasserin, solange die Hunde leben, alljährlich zu einem Wienachtsgutzi-Essen einzuladen.“
„Na super“, sagte ich. „Dieses Jahr“, fuhr Urs fort, „wäre das Testament erstmals zum Tragen gekommen, denn vor ein paar Monaten ist Martha gestorben. Der Tierschutzverein hat uns tatsächlich in den ‹Auhafen› gebeten. Aber keiner geht hin. – Was mich angeht: Ich hätte gar keine Zeit. Ich bin bei Antje und Willem eingeladen.“