Basel Wenn der Patient aus Kunststoff ist

Die Oberbadische

Medizin: Im Simulationszentrum des Universitätsspitals Basel lässt sich der Ernstfall erproben

Straßenlärm ist zu hören. In der Ferne rattert ein Presslufthammer. An dem Patienten, der mit seinem Fahrrad gestürzt ist, lässt sich ein stark beschleunigter Herzschlag ertasten. Immer wieder ist ein Stöhnen zu vernehmen, dann ein Geräusch, als ob sich jemand übergeben muss. Die beiden Sanitäter, die sich über den am Boden Liegenden beugen, handeln rasch, aber dennoch gelassen.

Von Adrian Steineck

Basel. Die beiden konzentrierten Helfer sind aus Fleisch und Blut. Ihr „Patient“ ist es nicht, auch wenn an ihm Herzschlag und Puls zu fühlen sind, auch wenn seine Pupillen sich erweitern und zusammenziehen können, seine Zunge anschwillt, sich sein Brustkorb hebt und senkt und ein Zittern seinen Körper durchläuft. Es handelt sich um eine 60 Kilogramm schweren Kunststoff-Dummy, der elektronisch gesteuert wird.

„Lebensfunktionen“ sind mit der Maus gesteuert

Im Simulationszentrum des Universitätsspitals Basel (USB) spielen sich regelmäßig Szenen wie die eingangs Beschriebene ab. Sie dienen dazu, Ärzte, Sanitäter und Rettungskräfte den Ernstfall erproben zu lassen, wie Stefan Gisin, Oberarzt der Anästhesie und zugleich Leiter des Simulationszentrums, bei einem Besuch unserer Zeitung erklärt. Gisin selbst ist durch eine Glasscheibe von den beiden auf die Probe gestellten Helfern getrennt, aber er kann auf einem Monitor genau sehen, was diese tun, und zugleich die „Lebensfunktionen“ des Mannequins, wie die elektronischen Patienten im Fachjargon genannt werden, steuern. Mit einem einfachen Mausklick kann er den Herzschlag der künstlichen Figur beeinflussen – und den beiden Sanitätern hinter der Scheibe Schweißperlen auf die Stirn treiben.

„Im Grunde ist das ein einziges großes Computerspiel – aber eines mit ernstem Hintergrund“, bringt Gisin es auf den Punkt. So stellt er sich bei jeder seiner Aktionen, mit denen er eine Änderung an dem Kunststoffdummy hervorruft, die Frage nach der medizinischen Relevanz. „Im Grunde könnte ich den elektronischen Patienten innerhalb von fünf Minuten so viele wechselnde Gesundheitszustände durchmachen lassen, wie sie jemand in einem Monat nicht erlebt“, macht er deutlich. Das wäre aber wenig zielführend, und so beschränkt er sich an diesem Tag darauf, die Pupillen zu vergrößern sowie Blutdruck, Puls und Bewusstseinszustand zu verändern. Daran sollen der Notarzt und der Rettungssanitäter erkennen, dass bei ihrem „Patienten“ ein Schädel-Hirn-Trauma vorliegt und sie ihn zur sofortigen Operation in die Klinik bringen müssen.

Bei den beiden Probanden handelt es sich um Moreno Futterer, Assistenzarzt Anästhesie und Notarzt, und den Anästhesiepfleger und Rettungssanitäter Andreas Haug. Die beiden haben sich zuvor noch niemals gesehen. Zunächst geht es darum, den Hals des „Patienten“ mit einer Stütze zu stabilisieren, noch bevor dieser von dem verdrehten Fahrrad befreit wird, das seine Beine umschließt. Futterer legt die Halskrause an, um zu verhindern, dass durch die liegende Position eventuell ein Halswirbel geschädigt wird und eine Lähmung droht. Dann erst können Futterer und sein Kollege Haug das Hemd des elektronischen Patienten öffnen, damit sie überhaupt an den Oberkörper herankommen und diesen untersuchen können.

Gisin stöhnt derweil von seiner Position im Kontrollraum aus immer wieder in ein Mikrofon. Die Geräusche des Erbrechens löst er per Knopfdruck aus. Auch wenn Gisin wie auch die beiden auf die Probe Gestellten ihre Ruhe niemals verlieren, wirkt die Situation auf den unbeteiligten Zuschauer beklemmend. „Die Mediziner vergessen nach kurzer Zeit völlig, dass sie mit einem künstlichen Patienten arbeiten und es in diesem Fall nicht um Leben und Tod geht“, schildert Gisin seine Erfahrungen.

Dazu tragen schon kleinste Details bei. So liegt der Patient auf einer Decke, die in dunklen Grün- und Brauntönen gehalten ist und den Waldboden simuliert. Hintergrund ist, dass die Rettungskräfte etwa eine Spritze oder einen Beatmungsschlauch nicht einfach auf den Boden legen können, denn dort gehen die Geräte verloren.

Kleine Details für mehr Realitätsnähe

Um die Illusion noch vollkommener zu machen, ist die Decke mit Druckknöpfen versehen, die beim Knien weh tun können. „Es geht auch darum, zu erproben, ob man diesen Schmerz für die Dauer der Notfallmaßnahmen aushält, denn im Ernstfall gibt es auch nicht immer flachen Grund zum Hinknien“, umreißt Gisin die Idee dahinter.

Der elektronische Patient hat 120 000 Schweizer Franken gekostet, aber: „Es gibt auch noch doppelt so teure Exemplare“, weiß Gisin. Diese können dann unter anderem ihre Hautstruktur verändern, um etwa die Auswirkungen von Allergien darzustellen. Daneben verfügt das Simulationszentrum über Exemplare, die eine Schwangerschaft simulieren und sich „entbinden“ lassen. Das Ziel ist dabei immer das Gleiche: Den Rettungskräften dazu zu verhelfen, dass sie im Ernstfall wissen, was zu tun ist.

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