Grenzach-Wyhlen Wo einst die Russen schufteten

Ulrich Kaiser

Mithilfe einer Kunstausstellung will Ulrich Kaiser die Geschichte der Wyhlener Solvay-Steinbrüche zurück ins Gedächtnis rufen

Die ehemaligen Steinbrüche der früheren Sodafabrik Solvay in Wyhlen sind heute ein gehobenes Wohngebiet mit mediterranem Charakter und dem schönen Straßennamen „Felsterrasse“. Wer hier lebt oder einfach nur spazieren geht, genießt Ruhe und Aussicht gleichermaßen. Dass hier einst russische Zwangsarbeiter schufteten, wissen nur noch wenige. Der Wyhlener Ulrich Kaiser möchte dies ändern. Am liebsten würde er dazu die derzeit in Berlin gezeigte Ausstellung „Missing Stories“ nach Wyhlen holen. Kaiser selbst verbindet zudem viele persönliche Erinnerungen mit den Steinbrüchen und hat sie für unsere Zeitung zu Papier gebracht.

Von Ulrich Kaiser

Grenzach-Wyhlen. Mitte der 1960er Jahre war ich noch ein Bub. Zwar war seinerzeit nach den Hausaufgaben fast täglich Fußball auf unserer Straße angesagt, weitaus verlockender für uns vielleicht zehn, zwölf Nachbarjungs waren jedoch die Wyhlener Kalksteinbrüche. Deren teils senkrechte Felswände sind bis zu 35 Meter hoch. Davor warnten uns unsere zurecht besorgten Eltern. In einem unbeobachteten Moment waren wir aber gleichwohl rasch verschwunden und unsere Straße wieder frei von Bubengeschrei. Die Warnung der Eltern nahmen wir alle miteinander selbstverständlich sehr ernst und begaben uns deshalb normalerweise in die vergleichsweise „harmlosen“ Solvay-Steinbrüche am Ostrand unseres Dorfes. Dort sind die Wände nur etwa fünf bis sechs Meter hoch, eventuelle Klettereiabstürze insofern höchstwahrscheinlich überlebbar, so unser mutiges und draufgängerisches Kalkül.

Kaisers Großvater zimmerte die Betten für die Zwangsarbeiter

Was wir damals natürlich noch nicht wussten und auch nicht darüber nachdachten, das war die Frage, wie diese Steinbrüche denn eigentlich entstanden waren. Für uns waren sie einfach nur da – ein spannender Abenteuerspielplatz. Beim Klettern feilten wir an unserer Körperbeherrschung, an der Feinmotorik, und schärften dabei insbesondere unseren Tastsinn an Händen und Füßen, denn im Sommer kletterten wir immer barfuß.

Wir ahnten zwar, dass die Bruchwände nicht auf natürliche Weise so „gewachsen“ sein konnten; zu lotrecht, zu glatt, zu perfekt – also ein Werk von Menschenhänden?

Die Zwangsarbeiter logierten damals im Gasthaus „Ochsen“

Mein Großvater hatte darüber immer wieder einmal ein paar Sätze fallenlassen. Vom Wyhlener „Ochsen“ als Schlafstatt von Kriegsgefangenen war oft die Rede, vom „Russehüüsli“ am Eingang zur Engeltalstraße, dem Weg hinauf in die Solvay-Steinbrüche und schließlich von SS-Wachsoldaten mit ihren entsicherten Maschinenpistolen im Anschlag.

Erst in der Quarta mit zwölf oder 13 Jahren hörte ich erstmals durch unseren damaligen Geschichtslehrer von den Hintergründen und dem Zustandekommen dieser Steinbrüche. Daraufhin wurde ich neugierig, und auch mein Großvater, Jahrgang 1899, stillte jetzt geduldiger meine Wissbegierde. Von russischen Zwangsarbeitern war da plötzlich die Rede, und dass er in unserer Schreinerei im Auftrag der Verantwortlichen der hiesigen Solvayfabrik rund 50 Etagenbetten aus Holz für die russischen Kriegsgefangenen zimmerte, einfache, robuste Holzgestelle, denn allzu viel sollten sie ja nicht kosten, und luxuriös mussten sie per se auch nicht unbedingt sein: vier Pfosten, ein Lattenrost je Bett, zwei Bretter seitlich und je zwei am Kopf- und am Fußende. Eine Leiter? Wozu?

Genaueres wollte ich zu dieser meiner Jugendzeit aber erst gar nicht wissen, denn dank meiner Vorstellungskraft konnte ich mir das restliche, schreckliche Schicksal dieser Männer leicht selbst ausmalen. Ein Übriges trugen meine Lektüre von Joseph Scholmers „Arzt in Workuta“ und bald darauf Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ bei.

Als ich meine Wyhlener Heimat 1976 in Richtung Fremde verließ und somit unter anderem auch unsere Solvay-Steinbrüche aus den Augen verlor, verblasste nach und nach auch meine Erinnerung daran. Sie flackerte während meines Studiums der Neueren und Neuesten Geschichte bei Prof. Heinrich August Winkler noch einmal kurz auf. Ein weiteres Mal – und diesmal mit Macht – als ich 1994/95 fürs Literaturhaus Berlin das Buch „Steinbruch am Bug – Bericht einer Deportation nach Transnistrien“, von Isak Weißglas verfasst, als verantwortlicher Hersteller realisieren durfte.

Kunstausstellung „Missing Stories“ im Willy-Brandt-Haus Berlin

Endgültig nicht mehr los ließ mich der Gedanke, in Wyhlens Solvay-Steinbrüchen „mal irgendwann irgendetwas Vernünftiges machen zu wollen“, beim Lesen von Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ sowie Ian Kershaws zweibändiger Hitler-Biografie.

„Irgendwann irgendetwas machen!“ Aber was? Eine Dokumentation? Eine Ausstellung! Bald! Im Sommer 2023, so mein erster Gedanke! Und siehe da, es gibt sie ja schon, diese Ausstellung: „Missing Stories. Zwangsarbeit unter den Nazis. Eine künstlerische Annäherung“. Zwölf Künstler vom Balkan widmeten sich dabei genau diesem Thema, das mir seit Jahren mit Blick auf die Wyhlener Solvay-Steinbrüche am Herzen liegt.

Ins Leben gerufen wurde die Ausstellung vor zwei Jahren vom Goethe-Institut in Belgrad. Als vorerst letzte Station ist sie derzeit noch bis Ende April im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen. Und dann? Dann vielleicht in Grenzach-Wyhlen? Das passte doch alles exakt auf die Geschichte der Wyhlener Solvay-Steinbrüche, so meine Idee.

Inzwischen fühlte ich diesbezüglich nicht nur bei den Machern in Belgrad und in Berlin vor, sondern sprach bereits auch mit mehreren Zeitzeugen und Gewährspersonen in Grenzach-Wyhlen, die mir ihre spannenden Erinnerungen an die damaligen Vorgänge während des Zweiten Weltkrieges allesamt bereitwillig und lebendig anvertrauten.

In ihrer Heimat waren die Zwangsarbeiter nicht mehr wohlgelitten

Nach Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten 1945 wurden die Solvay-Zwangsarbeiter auf Geheiß der französischen Besatzer nach Russland zurücküberstellt. Tragischerweise seien sie bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt und im Auftrag der damals herrschenden stalinistischen Nomenklatura allesamt ermordet worden, lautet das von einem der Wyhlener Zeitzeugen kolportierte Gerücht.

Nur eine Anekdote? Wohl nicht ganz. Aber zigtausendfach verbrieft ist die Praxis der Sowjets, die geschundenen Rückkehrer zu stigmatisieren, als Menschen zweiter Klasse wie Aussätzige zu behandeln und zu schikanieren.

Nicht zuletzt dies ist nach meinem Dafürhalten einer von vielen Gründen, diese Menschen mit einer Ausstellung posthum zu würdigen, um diese leidvolle Geschichte unserer ortsansässigen Bevölkerung und darüber hinaus – alt wie jung – ins Gedächtnis zurückzurufen.

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