Erst in der Quarta mit zwölf oder 13 Jahren hörte ich erstmals durch unseren damaligen Geschichtslehrer von den Hintergründen und dem Zustandekommen dieser Steinbrüche. Daraufhin wurde ich neugierig, und auch mein Großvater, Jahrgang 1899, stillte jetzt geduldiger meine Wissbegierde. Von russischen Zwangsarbeitern war da plötzlich die Rede, und dass er in unserer Schreinerei im Auftrag der Verantwortlichen der hiesigen Solvayfabrik rund 50 Etagenbetten aus Holz für die russischen Kriegsgefangenen zimmerte, einfache, robuste Holzgestelle, denn allzu viel sollten sie ja nicht kosten, und luxuriös mussten sie per se auch nicht unbedingt sein: vier Pfosten, ein Lattenrost je Bett, zwei Bretter seitlich und je zwei am Kopf- und am Fußende. Eine Leiter? Wozu?
Genaueres wollte ich zu dieser meiner Jugendzeit aber erst gar nicht wissen, denn dank meiner Vorstellungskraft konnte ich mir das restliche, schreckliche Schicksal dieser Männer leicht selbst ausmalen. Ein Übriges trugen meine Lektüre von Joseph Scholmers „Arzt in Workuta“ und bald darauf Solschenizyns „Der Archipel Gulag“ bei.
Als ich meine Wyhlener Heimat 1976 in Richtung Fremde verließ und somit unter anderem auch unsere Solvay-Steinbrüche aus den Augen verlor, verblasste nach und nach auch meine Erinnerung daran. Sie flackerte während meines Studiums der Neueren und Neuesten Geschichte bei Prof. Heinrich August Winkler noch einmal kurz auf. Ein weiteres Mal – und diesmal mit Macht – als ich 1994/95 fürs Literaturhaus Berlin das Buch „Steinbruch am Bug – Bericht einer Deportation nach Transnistrien“, von Isak Weißglas verfasst, als verantwortlicher Hersteller realisieren durfte.
Kunstausstellung „Missing Stories“ im Willy-Brandt-Haus Berlin
Endgültig nicht mehr los ließ mich der Gedanke, in Wyhlens Solvay-Steinbrüchen „mal irgendwann irgendetwas Vernünftiges machen zu wollen“, beim Lesen von Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ sowie Ian Kershaws zweibändiger Hitler-Biografie.
„Irgendwann irgendetwas machen!“ Aber was? Eine Dokumentation? Eine Ausstellung! Bald! Im Sommer 2023, so mein erster Gedanke! Und siehe da, es gibt sie ja schon, diese Ausstellung: „Missing Stories. Zwangsarbeit unter den Nazis. Eine künstlerische Annäherung“. Zwölf Künstler vom Balkan widmeten sich dabei genau diesem Thema, das mir seit Jahren mit Blick auf die Wyhlener Solvay-Steinbrüche am Herzen liegt.
Ins Leben gerufen wurde die Ausstellung vor zwei Jahren vom Goethe-Institut in Belgrad. Als vorerst letzte Station ist sie derzeit noch bis Ende April im Berliner Willy-Brandt-Haus zu sehen. Und dann? Dann vielleicht in Grenzach-Wyhlen? Das passte doch alles exakt auf die Geschichte der Wyhlener Solvay-Steinbrüche, so meine Idee.
Inzwischen fühlte ich diesbezüglich nicht nur bei den Machern in Belgrad und in Berlin vor, sondern sprach bereits auch mit mehreren Zeitzeugen und Gewährspersonen in Grenzach-Wyhlen, die mir ihre spannenden Erinnerungen an die damaligen Vorgänge während des Zweiten Weltkrieges allesamt bereitwillig und lebendig anvertrauten.
In ihrer Heimat waren die Zwangsarbeiter nicht mehr wohlgelitten
Nach Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten 1945 wurden die Solvay-Zwangsarbeiter auf Geheiß der französischen Besatzer nach Russland zurücküberstellt. Tragischerweise seien sie bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt und im Auftrag der damals herrschenden stalinistischen Nomenklatura allesamt ermordet worden, lautet das von einem der Wyhlener Zeitzeugen kolportierte Gerücht.
Nur eine Anekdote? Wohl nicht ganz. Aber zigtausendfach verbrieft ist die Praxis der Sowjets, die geschundenen Rückkehrer zu stigmatisieren, als Menschen zweiter Klasse wie Aussätzige zu behandeln und zu schikanieren.
Nicht zuletzt dies ist nach meinem Dafürhalten einer von vielen Gründen, diese Menschen mit einer Ausstellung posthum zu würdigen, um diese leidvolle Geschichte unserer ortsansässigen Bevölkerung und darüber hinaus – alt wie jung – ins Gedächtnis zurückzurufen.