Auch der Gaza-Krieg wird nach Ansicht des Experten instrumentalisiert. Viele Videos zeigen schreckliche Bilder von leidenden Kindern im Gazastreifen. So gibt es nicht nur einen emotionalen Trigger, sondern es wird auch der Eindruck vermittelt, es gebe einen Platz im Internet, wo jemand den eigenen und durchaus berechtigten emotionalen Schmerz versteht. Doch das werde ausgenutzt: "Was islamistische Extremisten in Deutschland auszeichnet, ist, dass sie ausschließlich über das globale muslimische Leid sprechen. Das ist ihr Thema", sagt Özvatan.
Junge Männer als Ziel der Extremisten
"Die Einzelvideos sind in seltenen Fällen an sich islamistisch-extremistisch", meint er. "Das programmatische Angebot findet in der Summe der Einzelvideos statt." Und das sei eben problematisch, denn: Vereine und Seiten wie Generation Islam oder Realität Islam werden vom Verfassungsschutz der Hizb ut-Tahrir zugeordnet. Dabei handelt es sich um eine in Deutschland verbotene, extremistische Gruppierung. Die ihr ideologisch nahestehenden Vereine fordern unter anderem ein Kalifat, also einen Gottesstaat nach frühislamischem Vorbild. Auch in den Tiktok-Videos und Reels werden immer wieder die vermeintlichen Vorzüge dieser Staatsform besprochen.
Aber wer sind die Jugendlichen, die sich von diesem "Hosentaschen-Extremismus" - das Handy immer in der Hosentasche, immer abrufbar, immer verfügbar - ködern lassen? Cetin verortet viele von ihnen im bildungsfernen Milieu. "Dazu gehört auch ganz oft, dass die Eltern arbeitslos sind und es wenig Bewusstsein dafür gibt, die Kinder zu stärken", berichtet der Imam von der Arbeit in seinen Projekten. "Dabei geht es meistens um eine Identitätsfindung. Man will auffallen, ist dann konservativer als andere." Extremismusforscher Özvatan meint, nach dem gleichen Prinzip schafften es Rechtsextreme, auf Stimmenfang zu gehen. "Sie sprechen vor allen Dingen einsame Männer an, weil soziale Isolation ein treibender Faktor für Radikalisierung ist."