Kleines Wiesental Habe die Leute in mein Herz geschlossen

Markgräfler Tagblatt
Pfarrer Christian Rave ging in Ruhestand. Foto: Archiv Foto: Markgräfler Tagblatt

Interview: Christian Rave über seinen Abschied als Pfarrer im Kleinen Wiesental / Ausschreibung für Nachfolge läuft

Mit drei Feiern an Ostern verabschiedete sich Pfarrer Christian Rave offiziell von den evangelischen Kirchengemeinden Vorderes und Oberes Kleines Wiesental. Mit dem scheidenden Pfarrer, der mit 67 Jahren am 1. April in Ruhestand gegangen ist, sprach unser Redakteur Harald Pflüger.

Frage: Herr Rave, an Ostern feierten Sie Ihre letzten Gottesdienste. Wie bewegend waren diese für Sie?

Das war schon eine Mischung aus Wehmut und der Freude darüber, dass es trotz allem wieder Ostern wird. Allerdings musste angesichts der Pandemie alles deutlich kürzer ausfallen. Auch die Osternachtsliturgie musste ich erheblich kürzen. Immerhin konnten wir uns mit Abstand treffen. Dafür haben wir die Gottesdienste in die größte Kirche im Tal, die in Tegernau, verlegt, und auf das legendäre Osterfrühstück mussten wir verzichten. Aber es gibt ja ein nächstes Jahr.

Frage: Coronabedingt müssen Gottesdienste anders gestaltet werden als vor Ausbruch der Pandemie. Wie schwer fällt das?

Gottesdienste wie andernorts digital zu übertragen, macht für uns wenig Sinn. Sofern wir Präsenzgottesdienste feiern konnten, wurden diese auf etwa eine halbe Stunde Dauer begrenzt. Im Kirchenjahr hat jeder Sonntag ein typisches Thema, das vom Sonntagsevangelium bestimmt wird. Dazu gibt es mindestens fünf Möglichkeiten für weitere Lesungen, die Aspekte des Themas näher beleuchten. In den verkürzten Gottesdiensten des letzten Jahres gab es aber nur noch eine Lesung, die des Evangeliums. Da sind dann andere Teile der Bibel wie das Alte Testament leider zu kurz gekommen. Auch das Abendmahl können wir nur selten und eingeschränkt feiern, doch haben wir eine Lösung gefunden: Bayrische Diakonissen kamen auf die Idee, beim Backen von Hostien ein Viertel des Wassers durch Wein zu ersetzen und diese Weinoblaten einzeln in Zellophan zu verpacken. Unsere Kirchenältesten gehen durch die Reihen und alle nehmen sich eine Hostie. Dann essen wir gemeinsam. Natürlich ist es eine Notlösung, aber eine, die wenigstens etwas Gemeinschaft ermöglicht.

Frage:   Sie kamen im Jahr 2012 ins Kleine Wiesental. Erinnern Sie Sich noch an Ihren ersten Gottesdienst?

Natürlich. Das war meine Amtseinführung im Oktober 2012 durch Dekanin Bärbel Schäfer. Damals war die Laurentiuskirche in Tegernau (wegen Einsturzgefahr) schon drei Jahre lang geschlossen, so dass der Gottesdienst im bis auf den letzten Platz besetzten Gemeindehaus stattfinden musste. Seither weiß ich, wie viel Personen da reinpassen.

Frage: Als Sie die Kirchengemeinde übernahmen, war die Stelle drei Jahre vakant. Wie schwer ist es, in der heutigen Zeit Seelsorger für den ländlichen Raum zu gewinnen?

Ich glaube, das Problem im Markgräflerland ist nicht nur ein Problem des ländlichen Raums. Wir haben hier seit Jahren Vakanzen wie kaum woanders. Dazu muss man etwas zurückblicken. Während der Reformation haben die Bauern dafür gekämpft, dass sie ihre Pfarrer selber wählen dürfen. Das gehört heute noch zur DNA der evangelischen Kirche. Der Kirchenleitung ist es daher nicht möglich, einfach einen neuen Pfarrer zu schicken. Die Gemeinden sind darauf angewiesen, dass sich jemand um die Stelle bewirbt. Und das gestaltet sich manchmal ziemlich schwierig. Das hat in meinen Augen auch damit zu tun, dass das Theologiestudium neben dem Medizinstudium am längsten dauert. Das heißt, bis die jungen Leute fertig sind, sind sie in vielen Fällen bereits liiert. Die Partner haben dann meist schon eine Arbeit  und sind damit nicht mehr so flexibel. Während es im Raum Heidelberg und Mannheim eher zu viele junge Pfarrer gibt, fehlen sie uns hier. Wenn aber jemand den Weg hierher findet und merkt, wie wunderbar das Markgräflerland und die Nähe zu Frankreich und der Schweiz ist, möchten sie nicht mehr weg. Der Mangel hat natürlich zur Folge, dass alle Pfarrerinnen und Pfarrer im Markgräflerland mehrere Gemeinden betreuen müssen, und das macht die Arbeit schon kräftezehrend. Aber wir schaffen es einfach nicht, genügend Kolleginnen und Kollegen hierher zu locken.

Frage: Kein Job wie jeder andere, heißt es in der Stellenausschreibung, mit der eine Nachfolge gesucht wird. Können Sie das unterschreiben?

Ja, wobei es sich bei der Beschreibung um die Stellenausschreibung für die Kirchengemeinde Vorderes Kleines Wiesental handelt, zu der auch Endenburg, Schlächtenhaus und Weitenau gehören. Das Kleine Wiesental ist, im Gegensatz zum Großen Wiesental, traditionell evangelisches Gebiet. Hier hat die evangelische Kirche eher volkskirchlichen Charakter. Es bröckelt überall, sowohl in evangelischen als auch in katholischen Gemeinden – bei uns im Kleinen Wiesental aber nicht so stark wie anderswo. Hier gehört die Kirche für viele Leute zum Leben noch dazu. Wir haben keinen Kirchenchor, aber Gesangvereine, die regelmäßig im Gottesdienst singen, und auch keinen Posaunenchor, sondern Musikvereine, die mitmachen. Das macht mir persönlich sehr viel Freude.

Es sind keine Vereine wie viele andere, sondern solche, die  zum Leben dazugehören. Ich glaube, dass dies den Kirchengemeinden, den Kommunen und den Leuten selber guttut.

Frage: Es sind aber nicht nur die Vereine, die das Leben in derGemeinde bereichern.

Der spürbarste Ausdruck ist, dass Kirche und Kommune seit eineinhalb Jahren das gemeinsame Projekt „Im Tal leben – im Tal bleiben“ haben. Das ist etwas, das es in dieser Form andernorts nicht gibt. Wir haben das als Pilotprojekt durchsetzen können. Die Arbeit der beiden Mitarbeiterinnen kommt exzellent an. Beide  Frauen sind reich an tollen Ideen. Ich hoffe ein bisschen, dass die Menschen im Tal dadurch merken, dass die Kirchengemeinde für sie da ist und das Projekt nicht nur eine kommunale Sache ist.

Frage: Wie kam es zur Zusammenarbeit?

Kirche und Kommune haben den Bedarf gesehen, aber auch, dass sie das Projekt alleine nicht stemmen können. Darauf haben wir uns zusammengetan. Nun stellt sich die Frage, wie es auf Dauer weitergeht, weil wir das Projekt nur für drei Jahre finanzieren können. 

Frage: Nun hinterlassen Sie in der hiesigen Kirchengemeinde eine Lücke. Steht schon fest, wie diese Lücke geschlossen werden kann beziehungsweise wie die Vakanzvertretung aussehen wird?

Es gibt mit Wolfgang Gehring einen Ruhestandskollegen, der erst mal die Vakanzverwaltung für die beide Kirchengemeinden Vorderes Kleines Wiesental und Oberes Kleines Wiesental übernommen hat. Und das ist gut so, weil beide Kirchengemeinden seit Jahren eng zusammenarbeiten. Für die Kirchengemeinde Vorderes Kleines Wiesental läuft die Ausschreibung schon lange, aber bislang gab es keine Bewerbung. Für meine Stelle in der Kirchengemeinde Oberes Kleines Wiesental wird die Stellenausschreibung gerade erstellt. Ich habe Vertrauen in die Ehrenamtlichen, dass sie eine gute Stellenausschreibung hinkriegen. Ich bin halt jetzt weg.

Frage: Was hat Ihnen die Arbeit im Kleinen Wiesental persönlich gebracht?

Zur Beantwortung dieser Frage bräuchte ich noch ein bisschen mehr Abstand. Auf jeden Fall eine Liebe zu den Menschen, die hier leben. Vor meinem Amtsantritt hatte man mir gesagt, die Leute hier seien ein bisschen schwierig. Im großen und ganzen kann ich sagen, dass ich diese Erfahrung nicht gemacht habe. Meine Frau und ich haben freundliche und bodenständige Menschen erlebt, so dass wir uns schnell zuhause gefühlt haben. Wir werden auch im Ruhestand im Kleinen Wiesental wohnen bleiben.

Ich hatte in meinem Berufsleben zuvor hauptsächlich mit Studierenden zu tun gehabt und davor in einer Kirchengemeinde gewirkt, in der akademisch gebildete Leute den Ton angaben. Im Kleinen Wiesental war das anders. Und das hat mir gefallen. Denn Bauern und Handwerker sind in ihren Berufen mindestens genauso gescheit und kompetent wie Akademiker in ihren. Ich habe die Menschen hier ins Herz geschlossen und einige hoffentlich mich auch.

Vielleicht habe ich die Gottesdienstbesucher mit meinen Predigten manchmal überfordert, weil ich als Theologe den Anspruch habe, den normalen Leuten zu vermitteln, was wirklich in einem Bibeltext steht. Ich finde, die Kirchgänger haben darauf ein Recht, und ich traue ihnen zu, selber daraus Folgerungen für ihr Leben zu ziehen. Es gibt aber Leute meines Fachs, die, ausgehend von den Bibeltexten, schnell vor allem über die Folgerungen im Leben sprechen. Ich weiß nicht, ob es mir immer gelungen ist, eine Brücke zwischen beidem zu schlagen. Bemüht habe ich mich darum.

Frage:   Wie schwer fällt Ihnen der Abschied?

  Das Corona-Jahr hat die Arbeit erheblich schwerer gemacht als zuvor und auch bewirkt, dass ich mich auf den Ruhestand ein Stück gefreut habe. Es gibt aber genauso viel Wehmut, weil ich gerne hier war und in der Aufgabe aufgegangen bin. Es gibt Leute die denken, ein Pfarrer schafft nur eine Stunde pro Woche. In Wirklichkeit waren es oft 60 bis 70 Stunden, und das an sieben Tagen in der Woche. Daher freue ich mich, wieder mehr Freiheit zu bekommen. Und ich freue mich, dass die Landeskirche gemerkt hat, dass sie die Arbeit ihrer leitenden Angestellten anders strukturieren und Verwaltungsarbeit an Fachleute delegieren muss, damit Pfarrer wieder mehr Gelegenheit haben das zu machen, wofür sie ausgebildet sind und was jetzt oft zu kurz gekommen ist. Dass sich da jetzt deutlich was tut, freut mich, auch wenn ich persönlich nicht mehr davon profitiere.

Der Abschied fällt mir auch dahingehend schwer, weil ich Menschen in entschiedenen Momenten in ihrem Leben begleiten durfte und das nicht mehr möglich sein wird. Dass ich von vielen Häusern im Kleinen Wiesental weiß, wie es innen aussieht, ist ein Geschenk. Die Hausbesuche werde ich sicherlich vermissen. Ich habe viele Hausbesuche gemacht und trotzdem weniger als ich gerne gemacht hätte. Einfach, weil ich nicht mehr Zeit hatte. Und ich werde das Feiern von Gottesdiensten vermissen. Es ist ein hoher Anspruch, jede Woche ein neues Programm zu haben, und ich selber kann nicht anders, als Gottesdienste, die ja den Intimbereich der Mitfeiernden berühren, so gut wie möglich vorzubereiten. Ich kann nicht gut etwas Altes aufwärmen. Die theologische Arbeit dazu findet an zwölf oder 14 Stunden am Samstag statt. Daher freue ich mich mehr auf die freien Samstage als auf die freien Sonntage.

Frage: An was sollen sich die Gemeindeglieder nach Ihrem Weggang erinnern?

An einen Menschen, der so gut es ging für sie dagewesen ist.

Frage: Was hat Sie seinerzeit bewogen, Pfarrer zu werden?

Es waren Erfahrungen vor allem in Taizé, auch mit glaubwürdigen älteren Kollegen, nicht zuletzt auch katholischen. Letztendlich kam es für mich selbst plötzlich. Ursprünglich hatte ich mich für die Studienfächer Medizin oder Biochemie beworben, und über Nacht ist doch alles anders geworden. Und das, glaube ich, war richtig. Ich finde den Beruf als Pfarrer wegen seiner großen Vielfalt als einer der schönsten. Die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen, ist vermutlich nur in wenig anderen Berufen so groß.

Frage: Gab es einen Augenblick, in dem Sie die Entscheidung, Pfarrer zu werden, in Zweifel gezogen haben?

Es gibt wohl keine Pfarrerin, keinen Pfarrer, der nicht ab und zu daran zweifelt, ob sie oder er es noch schafft. Der Beruf verlangt einem einiges ab, und auch bei unsereinem gibt es manchmal ein Leiden an der kirchlichen Wirklichkeit. Die Entscheidung zu diesem Beruf habe ich nicht bereut, nur manchmal stellte sich das Gefühl der Überforderung ein.  Man ist ja nicht Berufschrist, sondern als Pfarrer auch Gläubiger. Und zum Glauben gehört der Zweifel. Schon in der Bibel steht das. Wenn man genau hinschaut, sind Gottes Lieblingskinder die Zweifler. Zweifel dürfen sein. Ich bin als Pfarrperson nicht besser oder schlechter als andere Christen. 

Frage: Die Arbeit eines Pfarrers, so unser Eindruck, ist vielschichtig. Muss ein Pfarrer in der heutigen Zeit auch Manager sein?

In vieler Hinsicht üben Pfarrer eine Managementfunktion aus. Wenn die etwas weniger wird, ist das gut. Viele Menschen wünschen sich jemanden, der vorgibt, wohin die Reise geht. In der Kirche sollte es aber das Ziel sein, gemeinsam zu schauen, wohin die Reise geht. Da muss der Manager sich zurückhalten, was aber den Ehrenamtlichen die Arbeit nicht immer leicht macht. 

Frage: Und auch Baufachmann? Sie ahnen, worauf wir hinaus wollen: Im August 2009 kam die Nachricht: Aufgrund altersbedingter, statischer Probleme im Dachstuhl des Kirchenschiffs dürfen die Laurentiuskirche in Tegernau sowie der Kirchensaal (alte Spielstube) bis auf Weiteres nicht mehr betreten werden.

Ein Baufachmann bin ich nicht. Deshalb habe ich angeregt, einen Bauausschuss einzurichten. Es gibt hier viele Menschen, die mehr davon verstehen als ich. Wenn wir schon von Entlastung in Sachen Verwaltung reden, bin ich der Meinung, dass es gut wäre, wenn Baufragen zentral in Lörrach angesiedelt wären und es jemanden vom Fach gibt, der die Dinge leichter beurteilen und regeln kann. Die Kirche in Tegernau ist in staatlicher Baupflicht. Da entscheiden wir nicht selber, sondern das Land Baden-Württemberg. Wenn die Kleinwiesentäler die Kirchenrenovierung selber in der Hand gehabt hätten, hätte sie nicht so lange gedauert. Zwei Wochen nach meinem Amtsantritt begannen die Sanierungsarbeiten an der Laurentiuskirche. Ich selbst hatte auf den Beginn keinen Einfluss.  Mein einziger Verdienst ist es, die Original-Orgelpfeifen der Merklin-Orgel vor dem Feuertod gerettet zu haben. 

Frage: Den Wettlauf mit der Zeit, von dem Sie einst sprachen, haben Sie gewonnen.

Der Dachstuhl der Kirche  ist erneuert und hält laut Architekt die nächsten 300 Jahre.

Frage: Wobei erholen Sie sich und tanken neue Kraft?

Meine Frau und ich sind begeisterte Camper. Wir lieben es, im Sommer mal drei Wochen weg zu sein, auf einem Campingplatz im Zelt zu leben, mit dem Rad zu fahren, zu wandern und viel zu spielen. Dann nehmen wir Abstand von der Arbeit. Das kommt oft zu kurz. Vielleicht wird mit meinem Ruhestand mehr möglich. Aber meine Frau muss noch fünf Jahre arbeiten. Insofern darf ich mir nicht zu viel erhoffen. Auch meine Kinder und Enkel kann ich sehr genießen, aber die wohnen alle so weit weg, dass wir uns zu selten begegnen.

Frage: So ganz gehen Sie aber noch nicht in Ruhestand.

Ich werde noch etwas weiterarbeiten. Die Badische Landeskirche bietet seit Neuestem Leuten, die in Ruhestand gehen, Teilzeitarbeit an. Die beiden Kirchengemeinden Vorderes Kleines Wiesental und Oberes Kleines Wiesental arbeiten seit 1960 eng zusammen in einem Verband, der unter anderem die Trägerschaft von sechs Kindergärten übernommen  hat. Diesen Verband mit über 30 Personalstellen kann man nicht wirklich ehrenamtlich führen, wenn beide Pfarrstellen vakant sind. Der Verband muss zudem umstrukturiert werden, aus steuerlichen Gründen kann er kein eingetragener Verein mehr sein. Daher habe ich mich bereit erklärt, den Verband noch ein Jahr als Vorsitzender zu führen. Ich hoffe, dass sich bis in einem Jahr neue Strukturen entwickelt haben oder es inzwischen eine Nachfolge gibt, der ich dann gerne Platz machen werde.

Es werden jetzt aber begrenzte Arbeitstage sein, und nicht mehr die Gemeindearbeit wie bisher.

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