Kreis Lörrach Wie gerecht ist Deutschland?

Denis Bozbag
Foto: Archiv Foto: Die Oberbadische

Interview: Der Ex-Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, hält kommenden Dienstag an der DHBW Lörrach einen Vortrag

Wie gerecht oder ungerecht ist Deutschland wirklich? Der Ex-Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, unterzieht in seinem Vortrag kommenden Dienstag an der DHBW Lörrach die reale Lage einem Faktencheck. Denis Bozbag unterhielt sich im Vorfeld mit dem Volkswirt über den aktuellen Gerechtigkeitsdiskurs in Deutschland.

Frage: Herr Cremer, was läuft bei der gegenwärtigen Debatte um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland falsch?

Die Debatte wird im Niedergangsduktus geführt. Man kann, ohne verlacht zu werden, behaupten, Deutschland habe nur noch einen „Suppenküchensozialstaat“, so weit sei der Sozialabbau vorangetrieben worden. Das Sozialbudget, die Summe aller Sozialausgaben, beträgt aber weiterhin 30 Prozent unserer Wirtschaftsleistung. Dieser Anteil sinkt nicht. Auch die Große Koalition hat in den vergangenen Jahren eine Reihe wichtiger Vorhaben durchgesetzt. Nur die Einführung des Mindestlohns hat es geschafft, ins öffentliche Bewusstsein zu dringen. Alles andere ist vergessen oder wurde kommentarlos abgehakt: Mütterrente, längerer Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende, flexiblere Ausgestaltung des Elterngeldes, Verbesserungen bei der Hilfe für behinderte Menschen, mehr Geld für die Pflege, öffentlich geförderte Arbeitsplätze für Menschen, die sehr lange arbeitslos waren. All dies hat dem verbreiteten Bild einer negativen sozialpolitischen Bilanz der Regierung nichts anhaben können.

Frage: In ihrem Buch „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“ fordern sie einen Diskurs, der eine lösungsorientierte Politik befördert. Hat die Politik verlernt, differenziert und sachlich zu argumentieren?

Man kann das Problem nicht allein bei Politikern abladen. Für sie ist es riskant, gegen den Niedergangsduktus zu argumentieren. Sie kassieren dann schnell den hämischen Vorwurf der Schönfärberei. Viele Menschen informieren sich nur noch in ihrer Blase in den sozialen Medien. Auch die Sozialverbände sollten die Öffentlichkeit ausgewogener informieren. Wir müssen uns stärker bemühen, Engagement, Nüchternheit und Faktentreue zusammenzubringen. Das gilt für Politiker, Medien und Verbände gleichermaßen. Von den Medien wünsche ich mir, dass sie Aussagen zum Sozialstaat von wem auch immer kritischer überprüfen. Wenn etwas in das allgemeine Bild passt, findet der Faktencheck häufig nicht statt, so mein Eindruck. Der Sozialstaat in Deutschland hat zum Glück eine breite Unterstützung. Aber die kann verloren gehen, wenn immer faktenwidrig so getan wird, als sei der Sozialstaat im freien Fall.

Frage: Der Populismus scheint im Osten des Landes Anklang zu finden, sieht man sich die Ergebnisse der vergangenen Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen an. Gibt es zwischen ihm und ihrem beschriebenen Niedergangsdiskurs einen Zusammenhang?

Mich erschreckt das Ergebnis in Thüringen. Aber der Populismus ist kein Sonderproblem des Ostens Deutschlands. Es gibt dafür keine einfache Erklärung. Aber wenn immer behauptet wird, alles bei uns sei schreiendes Unrecht, dann ist das Wasser auf die Mühlen populistischer Kräfte, die damit mobilisieren, die Politik würde sich um die Belange „des Volkes“ nicht kümmern. Das aber ist eine Verleumdung. Und es befeuert Zukunftsängste, auch die nutzen Populisten.

Frage: Hat der gesetzliche Mindestlohn nun dazu beigetragen, die soziale Lage in Deutschland zu verbessern oder hat er zuviel Hoffnung geschürt, dass Geringverdiener ohne ergänzende Sozialleistungen auskommen können?

Beides stimmt. Der gesetzliche Mindestlohn hat dazu beigetragen, dass die unteren Löhne gestiegen sind. Ich hoffe, dass es bei der klugen Regelung bleibt, dass die Tarifpartner mit Unterstützung von Wissenschaftlern die Erhöhung des Mindestlohns aushandeln und nicht die Politik ihn festlegt. Und gleichzeitig gibt es völlig unrealistische Erwartungen. Trotz Mindestlohn gibt es weiterhin eine Million Beschäftigte, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen bekommen, wird eingewandt. Das stimmt, aber 400 000 von ihnen haben nur einen Minijob, ergänzen also Hilfebezug mit Arbeit in geringem Umfang. Von maximal 450 Euro kann man nicht leben, egal wie hoch der Mindestlohn ist. Weitere 400 000 arbeiten sozialversicherungspflichtig, aber nur in Teilzeit. Auch da kann ein Mindestlohn nicht sicherstellen, dass das Arbeitseinkommen zum Leben reicht. Unrealistische Erwartungen diskreditieren ein sinnvolles arbeitsmarktpolitisches Instrument. Größere Familien brauchen ohnehin eine Verbindung von Erwerbseinkommen und staatlicher Unterstützung. Man könnte dies aber besser lösen als heute, etwa über eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung.

Frage: Wenn wir von sozialer Gerechtigkeit sprechen, sehen viele den Staat in seiner Verantwortung, durch Transferleistungen und Gesetze eine gerechte Verteilung herbeizuführen. Können aber nicht auch Unternehmen, Vereine und Verbände sowie jeder selbst, das Land sozial gerechter machen?

Eindeutig ja. Unternehmen, die ausbilden und auch Hauptschülern mit weniger guten Noten eine Chance geben, tun etwas für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gleiches gilt für Sport- oder Musikvereine, die Kinder und Jugendliche auch aus prekären Milieus erreichen und Integration fördern. Ehrenamtliche Paten können Kindern und Jugendlichen Zeit und Interesse schenken. Sie können sie ermutigen, ihnen Anregungen geben und helfen, auch in schwierigen Situationen durchzuhalten. Patenschaften sind natürlich kein Ersatz für gute Schulen, können sie aber partnerschaftlich ergänzen. Sie können helfen, den engen Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen. Darum geht es ganz wesentlich, wenn wir mehr Gerechtigkeit wollen.  Der Vortrag „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“ findet am kommenden Dienstag, 5. November, ab 18 Uhr in der DHBW Lörrach, Campus Hangstraße, im Georg H. Endress Auditorium statt. Der Eintritt ist kostenlos.

Georg Cremer, geboren 1952 in Aachen, war von 2000 bis 2017 Generalsekretär und Vorstand Sozial- und Fachpolitik des Deutschen Caritasverbandes. Cremer hat in Freiburg Volkswirtschaftslehre und Erziehungswissenschaften studiert. Nach der Promotion arbeitete er in der Entwicklungszusammenarbeit in Indonesien, danach war er bei Caritas international, dem Hilfswerk der Deutschen Caritas, für die Katastrophenhilfe in Asien und für soziale Programme in Osteuropa tätig.

Cremer ist habilitierter Volkswirt und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Freiburg.

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