Beides stimmt. Der gesetzliche Mindestlohn hat dazu beigetragen, dass die unteren Löhne gestiegen sind. Ich hoffe, dass es bei der klugen Regelung bleibt, dass die Tarifpartner mit Unterstützung von Wissenschaftlern die Erhöhung des Mindestlohns aushandeln und nicht die Politik ihn festlegt. Und gleichzeitig gibt es völlig unrealistische Erwartungen. Trotz Mindestlohn gibt es weiterhin eine Million Beschäftigte, die ergänzende Hartz-IV-Leistungen bekommen, wird eingewandt. Das stimmt, aber 400 000 von ihnen haben nur einen Minijob, ergänzen also Hilfebezug mit Arbeit in geringem Umfang. Von maximal 450 Euro kann man nicht leben, egal wie hoch der Mindestlohn ist. Weitere 400 000 arbeiten sozialversicherungspflichtig, aber nur in Teilzeit. Auch da kann ein Mindestlohn nicht sicherstellen, dass das Arbeitseinkommen zum Leben reicht. Unrealistische Erwartungen diskreditieren ein sinnvolles arbeitsmarktpolitisches Instrument. Größere Familien brauchen ohnehin eine Verbindung von Erwerbseinkommen und staatlicher Unterstützung. Man könnte dies aber besser lösen als heute, etwa über eine einkommensabhängige Kindergrundsicherung.
Frage: Wenn wir von sozialer Gerechtigkeit sprechen, sehen viele den Staat in seiner Verantwortung, durch Transferleistungen und Gesetze eine gerechte Verteilung herbeizuführen. Können aber nicht auch Unternehmen, Vereine und Verbände sowie jeder selbst, das Land sozial gerechter machen?
Eindeutig ja. Unternehmen, die ausbilden und auch Hauptschülern mit weniger guten Noten eine Chance geben, tun etwas für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gleiches gilt für Sport- oder Musikvereine, die Kinder und Jugendliche auch aus prekären Milieus erreichen und Integration fördern. Ehrenamtliche Paten können Kindern und Jugendlichen Zeit und Interesse schenken. Sie können sie ermutigen, ihnen Anregungen geben und helfen, auch in schwierigen Situationen durchzuhalten. Patenschaften sind natürlich kein Ersatz für gute Schulen, können sie aber partnerschaftlich ergänzen. Sie können helfen, den engen Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg aufzubrechen. Darum geht es ganz wesentlich, wenn wir mehr Gerechtigkeit wollen. Der Vortrag „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“ findet am kommenden Dienstag, 5. November, ab 18 Uhr in der DHBW Lörrach, Campus Hangstraße, im Georg H. Endress Auditorium statt. Der Eintritt ist kostenlos.
Georg Cremer, geboren 1952 in Aachen, war von 2000 bis 2017 Generalsekretär und Vorstand Sozial- und Fachpolitik des Deutschen Caritasverbandes. Cremer hat in Freiburg Volkswirtschaftslehre und Erziehungswissenschaften studiert. Nach der Promotion arbeitete er in der Entwicklungszusammenarbeit in Indonesien, danach war er bei Caritas international, dem Hilfswerk der Deutschen Caritas, für die Katastrophenhilfe in Asien und für soziale Programme in Osteuropa tätig.
Cremer ist habilitierter Volkswirt und lehrt als außerplanmäßiger Professor an der Universität Freiburg.