Kreis Lörrach „Wir haben den Nerv getroffen“

Die Oberbadische

Interview: Dekan Gerd Möller über sexuellen Missbrauch in der Kirche und Gleichberechtigung

Der Dekanatsrat Wiesental sorgt sich um die Zukunft der Kirche im Erzbistum Freiburg. Das hat nicht nur mit der Streichung von Seelsorgeeinheiten im Rahmen der weitreichenden Reform „Pastoral 2030“ zu tun.

Der Rat spricht in einem Schreiben an Erzbischof Stephan Burger auch fehlende Ansätze der Kirchenleitung an bei der Reform im Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, sexuellem Missbrauch und dem Pflichtzölibat. Unser Redakteur Michael Werndorff hat sich darüber mit Dekan Gerd Möller unterhalten.

Frage: Herr Dekan, welchen Handlungsbedarf seitens der Kirche sehen Sie?

Wir haben die Wahrnehmungen in den Gemeinden in Worte gefasst und wünschen uns Mut der Bistumsleitung, die eingangs genannten Aspekte in den Prozess der deutschen Bischofskonferenz einfließen zu lassen. Wir denken, dass es dort durchaus Bischöfe gibt, die unser Anliegen unterstützen. Was den sexuellen Missbrauch angeht, habe ich das Gefühl, dass unser Bistum das Thema unbedingt in die Bischofskonferenz einbringen sollte. Bischof Burger hat Meilensteine gesetzt – nicht nur durch die Kommission „Macht und Missbrauch“.

Frage: Lassen Sie uns konkreter über die Meilensteine im Rahmen der Aufarbeitung im Bistum sprechen.

Nun, der Bischof spricht das Thema nicht nur an, er hat auch viele von sexuellem Missbrauch Betroffene zum Dialog eingeladen. Es gab mehrere persönliche Gespräche der Opfer der Übergriffe mit dem Erzbischof im Ordinariat in Freiburg, und über die Kommission hat er weitreichende finanzielle wie auch psychologische Entschädigungen vorgestellt, die das Bistum übernehmen wird. Das hat bisher noch keine staatliche Organisation geleistet. Großes Lob hierfür gab es vom Missbrauchbeauftragten der Bundesregierung.

Frage: Spannen wir den Bogen weiter: Innerkirchliche Missstände werden immer wieder thematisiert, es passiert aber recht wenig, meinen Kritiker. Können Sie die Kritik mit Blick auf die eingangs genannten Aspekte entkräften?

Im Bereich des sexuellen Missbrauchs bin ich der Ansicht, dass Papst Franziskus diese Angelegenheit immer wieder anspricht und sie auch zu einem seiner Themen gemacht hat – und das mit Konsequenzen. Natürlich kann man sich immer noch einmal ein Mehr wünschen, dabei müssen wir aber unterscheiden, ob wir von der deutschen oder der Weltkirche sprechen.

Frage: Weshalb?

In Deutschland ist die Sensibilität für dieses Thema in der Bevölkerung vorhanden, was auf globaler Ebene nicht in jeden Land der Fall ist. Aber wir als Kirche müssen hier Vorreiter sein. Wir wünschen uns, dass Bischof Burger seine Standards bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch bei der deutschen Bischofskonferenz einbringen wird und diese mit seinen Kollegen diskutiert.

Frage: Zurück zum Brief: Welche Rückmeldung erhalten Sie von der Basis?

Insgesamt erhalten wir positive Rückmeldungen. Wir haben den Brief an Bischof Burger gemeinsam mit allen Mitgliedern des Dekanatsrats beraten. Das Schreiben deckt die Stimmung derer, die hier tätig sind, und: Wir haben den Nerv der Menschen getroffen.

Es gibt durchaus auch kritische Anmerkungen, die mit der Frage des Pflichtzölibats zu tun haben. Das hat uns übrigens nicht gewundert, weil das Thema kontrovers diskutiert wird. In den Fragen des Pflichtzölibats und des Umgangs mit wiederverheiratet Geschiedenen ist es wichtig, dass die deutsche Bischofskonferenz beide Themen mit Blick auf Rom und die Weltkirche offenhält. Bei den Wiederverheirateten hat der Papst eine kleine Lücke geöffnet, die aber unterschiedlich interpretiert wird. Hier wünschen wir uns von der Bischofsleitung in Freiburg eine progressive Linie. Denn: In unserer Kirche ist Versöhnung eines der Kernthemen, das sollte auch mit Menschen geschehen, die in ihrem Leben an der Ehe gescheitert sind.

Frage: Der Graben zwischen Gläubigen vor Ort und der Kirchenleitung klafft immer weiter auseinander. Was muss geschehen, damit dieser überwunden werden kann?

Hier müssen wir wieder zwischen Welt- und deutscher Kirche differenzieren. Während man im deutschsprachigen beziehungsweise europäischen Raum von einer intellektuellen Kirche sprechen kann, geht es in anderen Teilen der Welt darum, ob die Menschen in einer Gemeinde genug zu essen haben. Dort stehen elementare Fragen im Vordergrund, während wir mit einem gesättigten Bauch Fragen diskutieren können und thematisch weiter sind als die Weltkirche.

Natürlich gibt es eine Kluft, und die erfahren wir auch in weltpolitischen Themen. Darüber hinaus gibt es einen Spannungsbogen zwischen Arm und Reich – nicht nur im Materiellen, sondern auch in der Bildung. Da entfernt sich derzeit die deutsche Kirche von der weltlichen Sicht auf die Dinge. Deswegen ist es wichtig, dass die Seite der Kirche, die näher an den besagten Themen ist, den Mut behält, diese immer wieder in den weltkirchlichen Dialog einzubringen.

Frage: Immer mehr bisher aktive Christen ziehen sich zurück. Das legt die Vermutung nahe, dass der Kirchenleitung der Wille fehlt, auf die heutige Lebenswirklichkeit einzugehen. Wie stehen Sie zu dieser These?

Da treffen Sie einen wunden Punkt. Es ist so, dass in gewissen Fragen das Gefühl herrscht, das Themen, welche die Menschen vor Ort bewegen, nicht aufgegriffen werden. Das bewegt die Kirche vor Ort genauso wie die Bistumsleitung. Die positiven Themen, welche die Kirche besetzt, kommen derzeit nicht zum Tragen, auch schaffen wir es nicht, jene Aspekte in der Öffentlichkeit zu platzieren. Indes sorgen die eingangs erwähnten Kritikpunkte für Aufsehen.

Frage: Was beschäftigt und erwarten die Gläubigen vor Ort?

Es gibt bei den Menschen vor Ort zwei unterschiedliche Kreise - jener, der einen gut gestalteten Sonntagsgottesdienst und attraktive Kirchenangebote erwartet, und den Kreis der katholischen Christen, welcher die Kirche gerne durch Steuerbeiträge unterstützt, aber deswegen nicht Teil der innerkirchlichen Gemeinschaft sein muss. Diese Bürger erwarten von der Kirche einen ordentlichen Umgang mit den Menschen, der dem Christentum entspricht. Die sehen im Umgang mit den wiederverheiratet Geschiedenen nicht das versöhnende Element, sondern eher einen Richtermoment.

Und: Was den sexuellen Missbrauch angeht, kam es leider auch zur Vertuschung. Das ist etwas, was die Menschen entsetzt und die Frage aufkommen lässt, was einen bewegt, in der kirchlichen Gemeinschaft zu bleiben. Aber: Der offene und klare Dialog, das wirkliche Bekenntnis sowie das Eingeständnis von Schuld und Versagen sind große Dinge, die wir, anders als andere Institutionen, auch haben. Das sollte in den offenen Dialog eingebracht werden.

Frage: Apropos Dialog: Kann die Kirche noch Antworten auf die Fragen der Zeit bieten?

Ja, denn die Kirche hat viel zu sagen. So merken wir zum Beispiel, dass junge Menschen nach konservativen – im Sinne von bewahrenden – Werten streben. Auch und gerade in der Bewahrung der Schöpfung.

Frage: Ein weiterer Aspekt, der im Schreiben an den Erzbischof angesprochen wird, ist die fehlende Gleichberechtigung von Mann und Frau in kirchlichen Ämtern. Die Kirche hält am klassischen Rollenbild fest. Warum?

Das liegt hauptsächlich an der Bibelinterpretation. Es gibt einen großen Streitpunkt in der Wissenschaft der Bibelauslegung: Wir wissen, dass unsere heilige Schrift in einer Zeit verfasst und beschlossen wurde, in der die klassische Rollenverteilung von Mann und nachgeordnet der Frau vorherrschend war. Bis ins vergangene Jahrhundert hinein hat sich die Sprache immer auf den Mann konzentriert. Man sprach zum Beispiel von Brüdern, meinte aber auch die Schwestern.

Das Dekanat Wiesental hat in der Diskussion der Bibelinterpretation klar Position bezogen – zwar gibt es eine Formulierung, die den Mann reinbringt, die Lebenswirklichkeit von Jesus hat aber das Rollenbild des Mannes um die Frau erweitert. Kurzum: Ich kann einer Frau nicht erklären, warum sie nicht Priesterin werden soll. Für mich gibt es weder einen intellektuellen noch einen Geschlechtsgrund, der Frau und Mann in den kirchlichen Weiheämtern nicht gleichberechtigen soll.

Frage: Abschließende Frage: Wie beurteilen Sie die Reform „Pastoral 2030“? Kommt die Kirche damit näher zum Gläubigen?

Das ist eine spannende Frage. Mit der Reform hat Bischof Burger die Prämissen genannt und die Wirklichkeit richtig erkannt. Und, ja, mit „Pastoral 2030“ sind auch große Einschnitte verbunden. Die Kirche kommt den Gläubigen aber dann näher, wenn sie den Dialog mit ihnen führt. Das ist auch das große Anliegen, das den Dekanatsrat zu diesem Brief bewogen hat, und zwar dem Bischof klar zu signalisieren, dass die Gläubigen an der Basis zu diesem Dialog bereit sind.

Die entscheidende Frage hierbei lautet, wie viel Vertrauen die kirchliche Leitung in das Handeln und Wissen der Menschen, die vor Ort die Kirche leben, hat. Je mehr Vertrauen unsere Bistumsleitung in die Menschen legt, desto erfolgreicher wird meiner Ansicht nach der strukturelle Reformprozess. Nicht zuletzt kann so auch der Abkehr von Gläubigen entgegengewirkt werden.

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