Lörrach Arbeiten im Ausnahmezustand

Bernhard Konrad
Andreas Nagy: „Wir haben eine junge, sehr motivierte Truppe. Was an Erfahrung fehlt, macht sie durch Engagement wett.“                 Foto: Konrad

Interview: Andreas Nagy über Polizeiarbeit in der Coronakrise und Perspektiven des Lörracher Reviers.

Andreas Nagy hat im März die Leitung des Lörracher Polizeireviers von Wolfgang Grethler übernommen. Im Gespräch mit Bernhard Konrad berichtet Nagy über seinen Start als Revierleiter in der Corona-Krise, Herausforderungen der Polizeiarbeit und den Wandel des Berufsbildes.

Frage: Herr Nagy, Ihre neue Stelle haben Sie im März unter außergewöhnlichen Umständen angetreten – mitten in der Corona-Krise. Wie hat sich der Arbeitsalltag der Polizisten im Revier verändert?

Ich bin im 40. Dienstjahr und habe so eine Situation noch nie erlebt: Die polizeilichen Aufgaben haben sich stark gewandelt. Unsere täglichen Herausforderungen sind unter anderem vom Freizeitverhalten der Bürger geprägt, insbesondere an den Wochenenden gehen mit Aktivitäten im öffentlichen Raum, in Kneipen und Diskotheken Aufgaben einher – dies alles ist durch den Lockdown plötzlich weggefallen. Die Stadt war nachts völlig leer, wie ausgestorben. Das kennen wir eigentlich nicht. Dennoch haben wir unseren Streifendienst am Nachmittag verstärkt, um auch in dieser Zeit Präsenz zu zeigen.

Frage: War die Bevölkerung in der Phase massiver Einschränkungen kooperativ?

Die überwiegende Mehrzahl der Leute hat sich daran gehalten, sehr wenige haben uns Schwierigkeiten bereitet -– unter diesen befanden sich übrigens viele, die uns auch sonst beschäftigen (schmunzelt), Stammkunden sozusagen. Wir haben immer versucht, die Dinge mit Augenmaß zu regeln, auf Dialog zu setzen. Wer allerdings meinte, eine Corona-Party feiern zu müssen, wurde in Absprache mit der Stadt sanktioniert.

Ein „Hot Spot“ war der Parkplatz in Obertüllingen. Dort haben wir mitunter über 100 Leute angetroffen, die sich nicht an die Abstandsregeln hielten, bei manchen war auch Alkohol im Spiel. Wir mussten dort etliche Platzverweise aussprechen. Zudem ging mit diesen Treffen eine erhebliche Vermüllung des Geländes einher.

Frage: War die in Lörrach kontrovers erörterte Sperrung dieses Parkplatzes sinnvoll?

Absolut.

Frage: Diskutiert wurde auch über die Hinweise von Bürgern auf Verstöße gegen die Corona-Verordnung. Gelegentlich war von Denunziation die Rede. Wie sehen Sie das?

Grundsätzlich sind wir als Polizei auf die Mithilfe der Bürger angewiesen, und tatsächlich sind solche Hinweise regelmäßig bei uns eingegangen. Ich habe das nicht als Denunziation gesehen. Dass etwa auf Spielplätzen 15 junge Leute Alkohol trinken, natürlich ohne Abstand, ist nicht akzeptabel. Auch im privaten Kontext gab es Vorfälle, die schlicht nicht in Ordnung waren: Wenn etwa mitten in der Corona-Krise eine Party mit 20 Leuten stattfindet. Natürlich gibt es unverhältnismäßige Beschwerden, aber auch diese Bürger kennen wir meist.

Frage: War die Polizei zu Beginn der Corona-Krise angemessen ausgestattet?

Der Anfang war schwierig – auch deshalb, weil in dieser Phase die Unsicherheit besonders groß war. Eine Streife kann den Zugriff nicht unterlassen, weil sie keinen Mundschutz dabei hat. Das war anfangs beunruhigend. Nach und nach wurden wir aber entsprechend ausgestattet.

Frage: Hatten Sie Corona-Fälle im Revier?

Wir hatten einen Fall. Das hatte kurzfristig deutliche Auswirkungen: Wir mussten samstags von jetzt auf gleich die gesamte Dienstgruppe in Quarantäne schicken und den Schichtdienst umstellen. Wir konnten die Leute aber schon am Montag beim polizeiärztlichen Dienst testen, und zum Glück waren alle Kontaktpersonen negativ.

Ohnehin haben wir so weit als möglich darauf geachtet, die Durchmischung der Dienstgruppen zu vermeiden.

Frage: Wie haben sich die Delikte entwickelt?

Telefonbetrügereien hat es nach wie vor gegeben, inhaltlich allerdings etwas an das Thema „Corona“ angepasst. Einbrüche gehen in der helleren Jahreszeit ohnehin zurück – diesmal wurde der Rückgang aber dadurch verstärkt, dass die Leute zuhause blieben. Und – man kann das objektiv so sagen: Auch die Schließung der Grenze zu Frankreich hat zum deutlichen Rückgang der Einbruchsdelikte beigetragen. Die Zahl der Unfälle ist ebenfalls merklich zurückgegangen. Glücklicherweise hat sich die Befürchtung eines massiven Anstiegs häuslicher Gewalt nicht bewahrheitet.

Frage: Allmählich normalisiert sich die Arbeit der Polizei. Wie sehen Sie die personelle Ausstattung des Reviers?

Uns fehlen nach wie vor rund 20 Prozent Personal. Natürlich wünsche ich mir als Dienststellenleiter 100 Prozent oder zumindest 90 oder 95 Prozent Personalausstattung. Mit 20 Prozent weniger Belegschaft zu arbeiten, ist – sagen wir mal: sehr sportlich.

Frage: Warum fehlen Polizisten? Sind die Hürden zu hoch? Der Beruf zu unattraktiv? Der Verdienst zu gering?

Zum einen gilt: Man muss nicht Mathematik studiert haben, um Personalentwicklung absehen zu können. Es müsste demnach bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewisse Zahl an Polizisten eingestellt werden, um diese Lücken zu schließen.

Gleichzeitig haben wir im Landkreis Lörrach seit Jahren Schwierigkeiten, genügend geeignete Bewerber zu finden. Interessanterweise gibt es diese Probleme an den Standorten der Polizeischulen nicht. Dort ist das Berufsbild des Polizisten offenbar stärker in den Köpfen der jungen Leute verankert. Aufgrund unserer regionalen Gegebenheiten haben nach meinem Eindruck viel mehr junge Menschen Berufsbilder im Blick, die in der angrenzenden Schweiz nachgefragt werden – etwa in der Pharma- und Life Science-Branche. Wir erreichen diejenigen, die sich wirklich für den Beruf interessieren. Aber wer unschlüssig ist, sich vieles vorstellen kann, tendiert in unserer Region offenbar weniger zur Polizei, als zu anderen Berufen.

Frage: Ist der Beruf des Polizisten heute mit größerer Selbstverständlichkeit auch ein Beruf für Frauen?

Ganz bestimmt. Ich selbst habe meine Ausbildung noch komplett ohne Kolleginnen absolviert. Als Praxisausbilder habe ich später die ersten Frauen ausgebildet. Sie müssen sich das vorstellen: Bei einem Einsatz wegen eines Hausstreits wurde meine Kollegin für meine Ehefrau gehalten! Damals sagte der Mann: „Sagen Sie jetzt Ihrer Frau...“ Wir schmunzeln noch heute darüber. Mittlerweile haben wir auch Frauen, die eine Dienstgruppe leiten. Der Wiedereinstieg ins Berufsleben nach der Elternzeit ist bei der Polizei ebenfalls gut möglich. Ich würde behaupten, dass wir heute ein Arbeitgeber sind, der für Frauen ein hohes Maß an Chancengleichheit bietet.

Frage: Aus aktuellem Anlass: Wie nehmen Sie die Debatte über Polizeigewalt in den USA wahr?

Natürlich erschreckt mich das als Polizeibeamter. Ich bin davon überzeugt, dass wir Deutschland und insbesondere Baden-Württemberg nicht mit den USA vergleichen können. Wir haben eine völlig andere Ausbildung. Ich glaube nicht, dass solch ein Vorfall in dieser Weise bei uns möglich wäre. Wir haben zudem Kontrollmechanismen installiert, um etwa Einzelfälle von verkappten Rassisten zu erkennen – wenn es nicht schon im Vorfeld in der Ausbildung passiert ist. Auf Dauer kann sich kein Polizist verstellen.

Frage: Trotz hohem Personaldruck vertrauen Sie darauf, dass die Polizei bei solchen Tendenzen nicht etwa ein Auge zudrücken würde?

Ich bin überzeugt davon. Keiner von uns kann Einzelfälle ausschließen. Aber ich glaube an unser Kontrollsystem.

Frage: Sie waren seit einigen Jahren Stellvertreter von Wolfgang Grethler. Hat sich für Sie mit dem Wechsel zum Leiter vieles verändert?

Offen gestanden nein. Wolfgang Grethler und ich haben sehr eng und vertrauensvoll zusammengearbeitet. Ich wusste, was auf mich zukommt und hatte bereits ein sehr gutes Netzwerk. Deshalb gelang der Einstieg reibungslos. Boris Becker hat mal gesagt: Wimbledon ist mein Wohnzimmer. Mein Wohnzimmer ist das Polizeirevier Lörrach.

Frage: Welche Aufgaben haben Sie als Revierleiter für die kommenden Jahre im Blick?

Ich bin für diesen Traumjob mit einem Fünf-Jahres-Plan angetreten. Wir haben eine junge, sehr motivierte Truppe. Was an Erfahrung fehlt, macht sie durch Engagement wett. Es macht jeden Tag Spaß, mit diesen Leuten zusammenzuarbeiten.

Im Tagesgeschäft sind wir natürlich oft fremdgesteuert und müssen abarbeiten, was kommt. Wir möchten aber darüber hinaus versuchen, Akzente zu setzen, unter anderem beim Thema Prävention und Sicherheit im Straßenverkehr. Grundsätzlich gilt – die Bürger müssen ihre Polizei wahrnehmen und erkennen: Die Polizei ist präsent.

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