^ Lörrach:  Den Menschen fehlt die Gemeinschaft - Lörrach - Verlagshaus Jaumann

Lörrach  Den Menschen fehlt die Gemeinschaft

Bernhard Konrad

Interview: Pfarrer Thorsten Becker über erzwungene Distanz, die Solidarität der Bürger und die Situation in Italien.

Lörrach - Die Corona-Pandemie schränkt auch die Angebote der Kirchen massiv ein. Besonders gravierend war eine Phase, als selbst die Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen kaum noch möglich war. Doch gibt es bei allen Problemen auch ermutigende Entwicklungen. Thorsten Becker schildert die Situation im Gespräch mit Bernhard Konrad aus der Perspektive des Pfarrers und Seelsorgers.

Herr Becker, wie nehmen Sie als Pfarrer und Seelsorger den Einfluss der Corona-Pandemie auf die Menschen wahr?

In diesem zweiten, etwas abgeschwächten Lockdown habe ich den Eindruck, dass die Situation tendenziell als noch belastender empfunden wird als im Frühjahr. Die von vielen im Sommer gehegte Hoffnung, dass wir Corona nun einigermaßen überstanden und bis zur Entwicklung eines Impfstoffs keine größeren Einschränkungen mehr zu erwarten haben, hat sich leider zerschlagen. Die Sorgen sind zurück – und nach meinem Gefühl auch die Enttäuschung über diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, blicken sowohl nach Leipzig als auch auf Corona-Demonstrationen in unserer Gegend. Der Mangel an Bereitschaft, an der Bewältigung der Pandemie mitzuhelfen, frustriert diejenigen, die sich alle Mühe geben.

Wie hat sich in Corona-Zeiten die Zahl der Gottesdienstbesucher entwickelt und wie ist die Stimmung während der Messe?

Die Zahl der Gottesdienstbesucher ist durch den Mindestabstand von 1,5 Metern natürlich eingeschränkt. In St. Bonifatius können rund 100 Gläubige am Gottesdienst teilnehmen – und die sind in der Regel auch da. An Sonn- und Feiertagen werden die vorhandenen Kapazitäten immer ausgeschöpft, auch an den Werktagen etabliert sich der Gottesdienst wieder – trotz der gegenwärtig etwas strengeren Maßnahmen. Das heißt: Während des gesamten Gottesdienstes müssen Masken getragen werden, Gesang ist derzeit nicht gestattet.

Stärkt dieses Gemeinschaftserlebnis die Menschen trotz aller Einschränkungen?

Gewiss. In der gesamten Zeit, in der Präsenzgottesdienste nicht gestattet waren, war das Verlangen der Menschen nach dieser Gemeinschaft zu spüren. Der gemeinsame Gesang wird dabei allerdings besonders vermisst.

Dieser Mangel an Gemeinschaft war im Frühjahr intensiv zu spüren, als eine Zeit lang nur wenige Trauernde auf Beerdigungen gestattet waren und auch die Begleitung Kranker sehr schwierig war.

Ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass dies für mich zu den bleibendsten Erfahrungen der Pandemie gehören wird. Das Miterleben-Müssen derart eingeschränkter Möglichkeiten in der Begleitung Sterbender und dem Abschiednehmen von Verstorbenen. An manchen Beerdigungen konnten nicht einmal alle Kinder teilnehmen. Ich kritisiere damit nicht die Maßnahmen der Regierung. Ich bewundere alle, die nach bestem Wissen Lösungen in dieser Pandemie suchen – und gerade die Anfangsphase war ja in vielerlei Hinsicht für alle Beteiligten mit großen Unsicherheiten verbunden. Aber diese Phase im Frühjahr war wirklich schlimm: Keinen Abschied nehmen zu können, war für die Angehörigen oft genau so gravierend wie der Tod des Ehemanns, der Ehefrau oder von Verwandten und Freunden. Die Möglichkeit dieser Begleitung ist für Menschen von größter Bedeutung.

Sie haben regelmäßig Kontakt zu älteren Bürgern. Wie erleben Sie deren Umgang mit der Corona-Pandemie?

Ich habe die Senioren bei uns in der Pfarrei von Beginn an als sehr seriös und verständnisvoll im Umgang mit diesen Herausforderungen erlebt. Gar nicht mal in erster Linie als ängstlich, sondern vielmehr als rücksichtsvoll, vorsichtig und bereit, Maßnahmen mitzutragen. Gleichzeitig muss man auch in diesem Zusammenhang klar sagen, dass viele Senioren unter Einsamkeit gelitten haben: sei es im Pflegeheim, im Krankenhaus oder zu Hause – trotz der vielen und intensiven Bemühungen der Pflegekräfte und Verantwortlichen.

Wie hat sich Corona insgesamt auf die vielfältigen Aktivitäten des Gemeindelebens ausgewirkt?

Der aktuelle Lockdown legt vieles lahm – bis auf Gottesdienste und seelsorgerische Dienste, die nun möglich geblieben sind, wie etwa die Begleitung kranker und sterbender Menschen. Und natürlich arbeiten Beratungsstellen, Caritas und Sozialstationen mit großer Mühe weiter, so gut es eben geht. Aber ansonsten: Jugend- und Bildungsarbeit sowie die gesamten Sitzungen der Ehrenamtlichen entfallen. Und das gerade nachdem etwa unsere Pfadis und Minis seit Mitte September mit sehr guten Hygienekonzepten wieder angefangen haben, Jugendarbeit zu machen: Es ist schon heftig. Wir haben als große Kirchengemeinde über 30 Institutionen und Gruppen. Es geht uns an dieser Stelle ähnlich wie den Vereinen: Wir wissen absehbar nicht, ob und wie wir wieder in unseren Alltag starten können. Aber wir nehmen diese Situation so an.

Sie haben lange in Italien gelebt und noch gute Kontakte dorthin. Das Land war anfangs stark betroffen und ist nach einer Phase deutlicher Entspannung nun wieder in einer schwierigen Situation. Welche Rückmeldungen erhalten Sie von dort?

Traurige. Wenn ich heute mit Freunden telefoniere – ob es sich um Kollegen handelt oder um Leute aus der Gastronomie und Hotellerie – dann ist das wirklich einfach nur sehr traurig. Sie haben gehofft, dass die rigorosen Maßnahmen eine zweite Welle verhindern können. Ich habe allerdings fast ausschließlich mit Menschen zu tun, die sich konsequent an die Maßnahmen gehalten haben, und die sind natürlich von dieser zweiten Welle besonders geschockt. Nie zuvor hatte ich bei Gesprächen mit Italienern eine solch kollektive Betroffenheit erlebt wie in diesem Frühjahr. Sie haben sich ja einen wesentlich strengeren und längeren Lockdown als wir in Deutschland auferlegt, in dem Schulen viel länger geschlossen waren und Restaurants nicht einmal Essen zum Mitnehmen anbieten durften.

Ohne den Ernst der Lage in Deutschland bagatellisieren zu wollen, scheint sie doch vergleichsweise stabil zu sein. Wie sehen Sie die beiden Länder im Vergleich?

Ich denke, dass wir bei allen Problemen ein anderes Unterstützungssystem haben: etwa was Kurzarbeitergeld und Wirtschaftsförderung angeht, aber auch hinsichtlich unseres weitreichenden Kranken- und Sozialversicherungssystems. Und man darf nicht vergessen, dass der Tourismus in Italien nochmal eine andere Rolle spielt als bei uns. Ich fürchte, dass der zweite Lockdown insbesondere in der Hotellerie und Gastronomie abermals für massive Einbrüche sorgen wird, mit denen viele Schließungen einhergehen werden. Dabei schimpfen die Leute mir gegenüber gar nicht so sehr über die Regierung. Zu spüren ist eher diese tiefe Traurigkeit darüber, es nicht geschafft zu haben, die zweite Welle zu verhindern.

Hat die in der ersten Corona-Welle so positiv in Erscheinung getretene Solidarität unter den Bürgern hierzulande nachgelassen?

Ich finde es nach wie vor beeindruckend, wie viele Bürger in großer Solidarität und mit Bedacht miteinander umgehen und aufeinander zugehen. Ich nehme eine ungebrochene Hilfsbereitschaft wahr, sowohl im Kleinen, Zwischenmenschlichen als auch in Vereinen oder etwa bei der Unterstützung von Restaurants. Bei allem, was in diesen Zeiten schlimm ist, möchte ich als positiv benennen: Vieles, was im Frühjahr entstanden ist, hat sich in einem guten Sinn etabliert.

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