Lörrach „Es geht um Hilfe und Kontrolle“

Die Oberbadische
Bernd Maelicke: „Strafe allein resozialisiert nicht. Je mehr Leute in den USA im Gefängnis sind und je längere Strafen sie dort verbringen, desto stärker steigen die Rückfallquoten an. Zudem ist das Gefängnissystem rund 20 Mal so teuer wie etwa die ambulanten Maßnahmen der Bewährungshilfe. Kalifornien gab zuletzt mehr Geld für Gefängnisse als für das Bildungssystem aus.“ Foto: zVg Foto: Die Oberbadische

Interview: Bernd Maelicke zur Rolle des Bewährungshelfers / Fachliche und politische Perspektiven

Lörrach. „Resozialisierung“ ist Bernd Maelickes Lebensthema. Schon während seines Studiums in Freiburg (Jura und Kriminologie) war er ehrenamtlich in der Straffälligenhilfe tätig. Später leitete er Forschungsprojekte, wurde Honorarprofessor und gestaltete in leitender Position als Ministerialbeamter eine moderne Resozialisierungspolitik mit. Zudem schrieb er zahlreiche Bücher zum Thema, die heute zu den Standardwerken seines Faches zählen. In seinem jüngsten Buch „Das Knast-Dilemma – Wegsperren oder resozialisieren?“ hinterfragt er im Abgleich mit dem plastischen Fallbeispiel des Straffälligen Timo S. das deutsche Strafsystem nach Wirksamkeit und humanitären Grundsätzen. Willi Vogl sprach mit Bernd Maelicke anlässlich einer Lesereise, bei der er auch in seiner alten Schule, dem Hans-Thoma-Gymnasium, Station macht.

Frage: Herr Professor Maelicke, Ihrer kriminalpolitischen Vita entnimmt man, dass Sie mit zwölf Jahren Mitglied einer Jugendbande waren. Inwieweit hat Sie diese dunkle Seite Ihres Lebens im Hinblick auf Ihre spätere Arbeit in der Straffälligenhilfe, als Uni-Professor und Ministerialbeamter für Resozialisierung geprägt?

Meine Situation damals lässt sich in gewisser Weise mit der Situation der heutigen Flüchtlingskinder vergleichen. Nachdem wir in Berlin ausgebombt waren und mein Vater im Krieg gefallen war, kam ich zu Pflegeeltern nach Göttingen. Fern der Mutterliebe holte ich mir Anerkennung in einer Jugendbande. Die Prognose war für mich damals als Zwölfjähriger die Einweisung ins Erziehungsheim. Die Rückkehr zu meiner Mutter, die mittlerweile in Südbaden lebte, hat mich vor einer größeren kriminellen Karriere bewahrt.

Frage: Wie kam es zu Ihren vielfältigen Engagements in der Resozialisierung?

Zunächst wollte ich immer Jurist werden. In Lörrach am Hans-Thoma-Gymnasium lernte ich dann meine jetzige Frau Hannelore kennen. Ihr Vater war Kurt Eickmeier, einer der ersten Bewährungshelfer in Deutschland. Regelmäßig zu Besuch in der Familie von Hannelore, erlebte ich den Umgang Kurt Eickmeiers mit „seinen Ganoven“ als herzlich und „auf Augenhöhe“. Das hat mich tief beeindruckt und so verband sich mein Jurastudium wie selbstverständlich mit meinem zunächst ehrenamtlichen Engagement in der Straffälligenhilfe und später dann in den verschiedenen beruflichen Arbeitsfeldern der Resozialisierung.

Frage: War Kurt Eickmeier eine späte Ersatzfigur für den im Krieg gefallenen Vater?

Ja. Nach meiner Begegnung mit ihm war mein Lebensthema nicht nur „Gerechtigkeit“ sondern auch „Resozialisierung“. Auch die beruflichen Weichen für meine Frau wurden von ihrem Vater geprägt. Sie hat nach einem Studium als Bewährungshelferin in Freiburg und als Leiterin des Mutter-Kindheimes in der Frauenanstalt Frankfurt-Preungesheim gearbeitet.

Frage: Unter einem Bewährungshelfer stellt man sich eine Art Sonderpädagogen vor, der unter erschwerten Bedingungen die verkrusteten kriminellen Verhaltensmuster von Erwachsenen aufzubrechen und zu verändern versucht. Trifft das zu?

Die Idee, dass man eine Strafe zur Bewährung aussetzen kann, und damit das System der vom Gericht bestellten Bewährungshelfer, kamen aus dem anglo-amerikanischen Raum. Der Bewährungshelfer begleitet den Straffälligen in vielen kritischen Lebenssituationen. Das sind Probleme mit fehlender Arbeit, Drogenkonsum, Einbindung in kriminelle Szenen, Überschuldung oder auch desolaten sozialen Beziehungen. Gleichzeitig fungiert er auch als Kontrolleur für die Justiz, um den im Urteil auferlegten Auflagen und Weisungen gerecht zu werden. Es geht um Hilfe und Kontrolle.

Frage: In ihrem aktuellen Buch „Das Knast-Dilemma“ werfen Sie auch einen Blick in unterschiedliche Strafsysteme. Wäre Kalifornien mit seinem ehemaligen Gouverneur Arnold Schwarzenegger, dem „Terminator“, und seinen konsequenten Bestrafungsmechanismen ein nachahmenswertes Modell für Deutschland?

Das US-amerikanische Strafrecht sieht für die erste Straftat zehn Jahre, für die zweite 20 Jahre und für die dritte 30 Jahre Freiheitsstrafe vor. Das Ziel ist Abschreckung durch Gefängnis. Je mehr Leute allerdings dort im Gefängnis sind und je längere Strafen sie dort verbringen, desto stärker steigen die Rückfallquoten an. Gefängnisse sind dort wahre Schulen des Verbrechens. Die Subkulturen aus Gewalt, Erpressung, sexuellen Übergriffen und Drogen sind dort um ein vielfaches drastischer als in der Bundesrepublik Deutschland ausgeprägt. Zum anderen ist das Gefängnissystem etwa 20 Mal so teuer wie zum Beispiel die ambulanten Maßnahmen der Bewährungshilfe. Speziell in Kalifornien wurden viele neue Gefängnisse gebaut und zudem privatisiert. Kalifornien gab zuletzt mehr Geld für Gefängnisse als für das gesamte Bildungssystem aus. Die daraus resultierende Staatspleite war somit selbstverschuldet.

Die Bundesrepublik hingegen setzt auch auf Bewährungshilfe. Etwa 250 000 Menschen werden derzeit in der Bewährungshilfe betreut, hingegen sind rund 63 000 Gefangene in den Vollzugsanstalten.

Frage: Trotz dieser eindeutigen Präferenz bleibt Bewährungshilfe womöglich Sisyphusarbeit. Wie sieht es hier mit den Rückfallquoten aus? Welche Strafe, aber auch welchen gesellschaftlichen Umgang empfehlen Sie für unverbesserliche Kriminelle?

Wir sperren auch in Deutschland viel zu viele Menschen ein. Das sind unter anderem chronische Schwarzfahrer oder Ladendiebe oder auch drogenabhängige Kranke. Es geht mit dem Menschenbild des Grundgesetzes nicht mehr um den Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sondern um die Resozialisierungsperspektive. Eine Gefängnisstrafe, auch eine lebenslange Gefängnisstrafe, ist dann richtig, wenn es etwa um gefährliche Sexualtäter, Mörder, Drogendealer oder Kriegsverbrecher geht. Hier müssen wir die Gesellschaft schützen und zur Normverdeutlichung beitragen.

Frage: Was ist Ihr kriminalpolitisches Credo?

Niemand wird als Verbrecher geboren. Allerdings gibt es klare Kriterien, um die Gefährdungspotenziale in einem bestimmten Milieu oder Wohngegenden auszumachen. Hier sind wir beim Stichwort Prävention. Dabei gibt es unterschiedliche Problemfelder: So sind etwa viele Eltern auf Grund ihrer eigenen Lebensgeschichte mit der Erziehung überfordert oder ankommende Flüchtlinge aus Nordafrika in unserer Gesellschaft nicht sozialisiert. Die Vermittlung von gesellschaftlichen Verhaltensregeln ist eine vielschichtige pädagogische Aufgabe, an der insbesondere alle direkt beruflich betroffenen Erzieher Sozialarbeiter, Lehrer, Juristen und auch die Medien und Politiker innerhalb ihrer Möglichkeiten zusammenarbeiten müssen. Erst wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind, gilt das Strafrecht als Ultima Ratio. Strafe allein resozialisiert nicht. Immer hat die Perspektive eines zukünftig straffreien Lebens im Interesse der potentiellen Opfer Vorrang.

Frage: Wie sieht ein erfolgreiches Resozialisierungssystem aus?

Das beste Projekt, an dem ich mitwirken durfte, fand in Köln statt. Sozialarbeiter von freien Trägern sind als „großer Bruder“ zu den Jugendlichen in die betroffenen Familien gegangen, haben klare Regeln aufgestellt und wurden von den Jugendlichen als Autorität akzeptiert. Sie haben entschieden dazu beigetragen, Drogenkonsum und Kriminalität zu minimieren, dafür gesorgt, dass nach der Haftentlassung eine Wohnmöglichkeit zur Verfügung stand, dass die Jugendlichen ihren Schulbesuch oder die Lehre fortsetzen konnten oder haben sie bei der Schuldenregulierung unterstützt. Viele Jugendlichen aus dem Programm haben bestätigt, dass sie es alleine ohne Vorbild und Kontrolle durch den „großen Bruder“ nicht geschafft hätten.

  6. November, 18 Uhr: Lesung und Diskussion in der Kirchstraße 6 beim Bezirksverein soziale Rechtspflege; Anmeldung per E-Mail info@bezirksverein-loerrach.de 7. November, 9.30 Uhr: Lesung und Diskussion in der Aula des Hans-Thoma-Gymnasiums

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