Lörrach Gnadenlos bürokratisch

Die Oberbadische
Im Spiel mit Masken gibt die Theatergruppe „Familie Flöz“ dem Schicksal flüchtender Menschen ein Gesicht. Foto: zVg Foto: Die Oberbadische

Theater: „Haydi“ des Berliner Ensembles „Familie Flöz“ bringt das Flüchtlingsthema auf die Bühne

Von Gabriele Hauger

Lörrach. Tragik und Komödie, einen Abend der Extreme durchlebt der Zuschauer beim Gastspiel der Familie Flöz. Unberührt bleibt wohl keiner im gut gefüllten Burghof. „Haydi“ heißt das ungewöhnliche, ambitionierte Stück aus dem Jahr 2014 der schon mehrfach in Lörrach gastierenden Schauspieltruppe aus Berlin, deren Charakteristikum eigentlich das wortlose, rein pantomimische Spiel mit Masken ist. Damit begeistert sie ihr Publikum regelmäßig. Diesmal präsentiert die Familie Flöz ein beeindruckendes Experiment: choreografisch und thematisch. Es geht um Flüchtlingselend und den überforderten europäischen Verwaltungsapparat, Themen, mit denen wir jeden Tag in den Nachrichten konfrontiert werden.

In „Haydi“ gibt es zwei Handlungsstränge, die zu verbinden durchaus ein Wagnis ist, das aber, um es vorwegzunehmen, gelingt: Zunächst ist da das Schicksal einer bitterarmen Familie in den Bergen, eine Geschichte, die in ihren Grundzügen an den bekannten Heidi-Stoff erinnert. Die Eltern brechen auf, in eine ungewisse Zukunft, lassen ihre kleine Tochter beim Großvater zurück. Als dieser stirbt, macht sich das kleine Mädchen alleine auf den Weg. Doch es klopft vergeblich an verschlossene Türen – am Ende stirbt es einen einsamen, kalten Tod.

Diese tragische Geschichte wird mit eingespielten, hauptsächlich gezeichneten Filmszenen, in denen die Akteure die typischen Masken tragen, und untermalt von bewegender Musik, erzählt. Ergänzt von „echten“ Szenen der Schauspieler direkt auf der Bühne. Es sind Sequenzen von beeindruckender Intensität, ohne dramatisch zu überzeichnen. Die Gesten spärlich, aber um so ergreifender: Wenn die verzweifelte Mutter ihr Kind zurücklassen muss, wenn das Mädchen am Ende seiner Kräfte zu Boden sinkt, zerreißt es einem doch fast das Herz. Zumal sich im Kopfkino automatisch die Realität des alltäglichen Flüchtlingselends vor Europas Grenzen abspielt.

Doch die Familie Flöz mit ihrem nur dreiköpfigen Ensemble man hat den Eindruck, es agierten viel mehr Schauspieler – steht nicht umsonst für wunderbare, teils skurrile Komik. Und so erleben wir im zweiten, dominierenden Erzählstrang den grotesken Alltag einer europäischen Flüchtlingsbehörde mit herrlich typisierten Nationalitäten. Hier läuft die Verwaltung der Flüchtlingsthematik zusammen.

Im Großraumbüro tummeln sich ein Casanova-Italiener, ein unterbelichteter Hilfsbote, ein ordnungsliebender Schweizer, eine dauerplappernde Französin, Chef des Ganzen ist ein Holländer. Alle ohne Masken, schwadronieren sie in einer herrlichen Fantasiesprache, mit eindeutigem Klangcharakteristikum und Echtwortfetzen. Herrlich anzuhören. Klar, der Italiener ist scharf auf die Frau, der Schweizer penibel am Kaffeeautomaten agierend, der Holländer ein baumlanger Sportsfreund. In pseudoweihnachtlicher Stimmung stellt sich die Brutalität dieses gnadenlosen Verwaltungsapparats um so krasser dar:

Die Akte über das gestorbene Flüchtlingsmädchen wandert von Schreibtisch zu Schreibtisch. Keiner will diesen tristen Fall bearbeiten. In grotesken, dabei urkomischen Szenen agieren hier die Wohlstands-Europäer: flirten und streiten, essen und schwätzen, kümmern sich dabei mehr um Gummibaum und Kaffeemaschine als um das Elend, das sich direkt vor ihren Augen abspielt. Nur ein junger Mann erträgt diese Ignoranz nicht, scheitert jedoch an dem fast gespenstischen Egoismus seiner Kollegen. Was inhaltlich erschüttert, wird von den drei glänzenden Schauspielern (Andrés Angulo, Björn Leese und Hajo Schüler) in furiosem Tempo erzählt. Urkomisch und slapstickhaft, wenn der akkurate Schweizer in einen Tanzrausch verfällt, wenn Drucker und Fax ein Eigenleben entwickeln oder Madame zur Furie wird.

Der Flüchtlings-Akte des toten Mädchens liegt ihr blutroter roter Schal bei. Die in helles Licht getauchten Büroszenen münden schließlich in das Bild vieler sich mit lautem Knall schließender Tore. Die Grenzen sind dicht. Am Schluss sehen wir das einsame traurige Mädchen, es greift wie hilfesuchend nach seinem roten Schal.

Es braucht Minuten, bis das erschütterte Publikum zu klatschen vermag.