Lörrach Immer im Spagat

mek
Die Rahmenbedingungen für den Unterricht in der inklusiven Klasse an der Salzert-Grundschule sind unzureichend, sagen Klassenlehrerin Eva Batram (l.), Sonderschulpädagogin Anja Schubert und Schulleiter Harald Valachovic unisono. Schubert: „Allein schon meine Stundenzahl macht das deutlich: 9 von 25. In der überwiegenden Zeit muss Eva Batram alle Aufgaben auffangen – in einer Klasse mit 27 Schülern aus elf Nationen.“ Foto: Bernhard Konrad Foto: mek

Interview: Eva Batram, Anja Schubert und Harald Valachovic über den anspruchsvollen Schulalltag in einer Inklusionsklasse.

Seit der Änderung des Schulgesetzes 2015 müssen Schüler, die ein sonderpädagogisches Bildungsangebot benötigen, nicht mehr eine  Sonderschule besuchen. Die Erziehungsberechtigten  können nun selbst  entscheiden, ob das Recht auf ein solches Angebot für ihr Kind an einer allgemeinen Schule oder an einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) erfüllt werden soll.

Kultusministerin Susanne Eisenmann sagt: „Die Inklusion wurde erfolgreich etabliert. Zugleich bleiben Herausforderungen. Unser Ziel muss der optimale Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen sein.“ Baden-Württemberg  strebe  es an, die individuellen Bedürfnisse  des Kindes und seiner Eltern mit den Angeboten und Möglichkeiten des Schulsystems in Einklang zu bringen.
So weit die Theorie. Aber wie sieht die Praxis aus?

Am Beispiel einer zweiten Klasse der Salzert-Grundschule, in der mehrere Kinder inklusiv beschult werden, hat unsere Zeitung nachgefragt. Bernhard  Konrad sprach  mit Klassenlehrerin Eva Batram, Sonderschulpädagogin  Anja Schubert und Schulleiter Harald Valachovic.

An der Salzert-Grundschule werden in einer inklusiven Klasse vier Kinder mit einem sonderpädagogischen Bildungsanspruch unterrichtet. Welche besondere Unterstützung brauchen diese Kinder?
SCHUBERT: Bei drei Schülern liegt der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich des Lernens, ein Kind hat eine schwere Sehbehinderung, hinzu kommt die Notwendigkeit der sprachlichen Förderung.

Wie hat die Elternschaft diese Besonderheit aufgenommen?
VALACHOVIC: Es wurde interessiert nachgefragt, aber es gab keine Kritik und schon gar keinen Widerstand zur Umsetzung des Inklusionsgedankens. Inklusion ist ein Auftrag für alle. Insofern ist es ohnehin nicht vorgesehen, dass sich Eltern bewusst gegen solche Klassen entscheiden können. In der Regel sind die Inklusionsklassen etwas kleiner, aber wir haben an der Salzertschule nur eine zweite Klasse.

Frau Schubert, Sie kommen aus der Pestalozzischule, um die Klassenlehrerin Eva Batram zu unterstützen. Wie läuft dieser Prozess im Schulalltag ab?
SCHUBERT: Meine Stundenanzahl an der Grundschule Salzert richtet sich nach dem Förderbedarf der Kinder. Derzeit kann ich die Klasse neun von insgesamt 25 Stunden in der Woche besuchen, dem sehbehinderten Mädchen steht noch eine Schulassistenz zur Seite.
Weil ich auch an der Pestalozzischule unterrichte, ist der Wechsel zwischen den beiden Schulen auch eine organisatorische Herausforderung, etwa mit Blick auf die Koordination der Stundenpläne. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, jeden Tag in die Klasse zu kommen. Im vergangenen Schuljahr konnte ich an vier von fünf Tagen in der Woche mit den Schülern arbeiten, in diesem nur an drei Tagen. In der übrigen Zeit sind die vier Kinder auf die zusätzliche Unterstützung durch ihre Klassenlehrerin angewiesen.

VALACHOVIC: Die Koordinierung der Stundenpläne ist ein Problem. Es kann passieren, dass Frau Schubert beim Sportunterricht anwesend ist, weil unser Stundenplan nun mal so liegt. Besser wäre es natürlich, sie könnte die Kinder in einer anderen Stunde betreuen.

SCHUBERT: Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenspiel zudem die Fahrzeit und der Umstand, dass die Stundenpläne auch in ihrer zeitlichen Taktung nicht deckungsgleich sind. Deshalb ist meine Anwesenheit nur in ganz bestimmten Phasen möglich.

Entsprechen Ausstattung und Rahmenbedingungen der Aufgabe?
SCHUBERT: Sie sind leider nicht ausreichend. Allein schon meine Stundenzahl macht das deutlich: neun von 25. In der überwiegenden Zeit muss Eva Batram alle Aufgaben auffangen – in einer Klasse mit 27 Schülern aus elf Nationen. Selbst ohne die inklusiven Kinder wären in dieser Gruppe die Lernvoraussetzungen sehr unterschiedlich. Gleichzeitig arbeiten die inklusiv beschulten Kinder an anderen Inhalten und mit anderen Materialien – also nicht nach dem Bildungsplan der Grundschule. Die Klassenlehrerin muss diesen Spagat bewältigen, allen gerecht zu werden.

Können Sie allen gerecht werden, Frau Batram?
BATRAM: Es ist jedenfalls eine große Herausforderung. Wir arbeiten häufig mit offenen Unterrichtsformen. Das erfordert viel Vorbereitungszeit und viele Materialen – die mitunter erst hergestellt werden müssen. Der Unterricht vollzieht sich gleichzeitig auf sehr unterschiedlichen Niveaus. Leicht ist es nicht.

Haben Sie sich für den Job freiwillig gemeldet?
BATRAM (lacht): Ja. Ich habe schon mein Referendariat hier absolviert und bin gerne an der Salzertschule.

VALACHOVIC: Die Bewältigung dieser Aufgabe fordert von beiden Lehrerinnen ein enorm hohes Engagement. Als Außenstehender kann man nicht wissen, wie viele Absprachen notwendig sind, um unter diesen Umständen zu unterrichten. Hinzu kommen ausführliche Elterngespräche. Diese Zusatzarbeiten werden bei der Berechnung des Deputats nicht berücksichtigt. Im Übrigen erfordert dieser Rahmen auch eine gute persönliche Beziehung zwischen den beiden Pädagoginnen. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit, aber in diesem Fall klappt es sehr gut.

Entwickeln sich die Kinder mit besonderem Förderbedarf in der Grundschulklasse besser? Oder wäre der Besuch einer spezialisierten Sonderschule, die ja womöglich auch den etwas geschützteren Rahmen bietet, die sinnvollere Alternative?
SCHUBERT: Die positiven Aspekte sind in diesem Fall zum Beispiel die wohnortnahe Beschulung. Die Kinder wohnen alle auf dem Salzert, aber das ist ein glücklicher Umstand. Die Wohnortnähe ist in inklusiven Klassen nicht selbstverständlich.
Andererseits kann ich gut den Vergleich ziehen zu Kindern in der zweiten Klasse der Pestalozzischule: Dort ist die Förderung doch intensiver, weil an einem SBBZ  unter anderem kleinere Klassen gebildet werden. In den neun Stunden, die mir auf dem Salzert zur Verfügung stehen, kommen die Kinder im Vergleich nicht so gezielt voran. Die Klassenlehrerin muss ohnehin einen sehr vielfältigen Förderbedarf berücksichtigen. Unter diesen Umständen können sich die Kinder einfach nicht so entwickeln, wie bei einer täglichen Förderung.

Bleibt Inklusion unter diesen Rahmenbedingungen eine gesellschaftspolitische Utopie, die nicht umgesetzt werden kann?
SCHUBERT: So wie es aktuell läuft, ist es in mancherlei Hinsicht nicht gut. Verbesserungen sind notwendig. Ich kann sehr gut verstehen, dass sich Eltern eine wohnortnahe Beschulung wünschen. Zudem ist oftmals noch eine gewisse Angst vor der Förderschule bei den Eltern zu spüren. Deshalb müssten die Bedingungen an den allgemeinen Schulen noch deutlich verbessert werden, um wenigstens eine Annäherung an die Möglichkeiten eines SBBZ zu schaffen.

VALACHOVIC: Inklusion ist wünschenswert, und wir stehen auch alle dahinter. Aber wir benötigen bessere Bedingungen. Wir bräuchten an der Grundschule Salzert eine Sonderschullehrerin mit einer vollen Stelle, die Teil des Kollegiums ist. Auch in anderen Klassen befinden sich Kinder mit sonderpädagogischem Bildungsanspruch, aber die Eltern möchten nicht, dass ihr Kind an einer anderen Schule inklusiv beschult wird oder ein SBBZ besucht. Eine Sonderschullehrerin mit einer vollen Stelle könnte die meiste Zeit in der inklusiven Klasse arbeiten, aber auch in die anderen Klassen schauen. Und sie könnte ihre Kolleginnen und Kollegen beraten, die weder die Ausbildung, noch die Erfahrung haben, wie wir mit diesen Kindern am besten umgehen.
 
Was sagen die anderen, insbesondere die leistungsstärkeren Schüler in der inklusiven Klasse? Und wie entwickeln sie sich?
BATRAM: Unter sozialen Gesichtspunkten wirkt sich die Klasse positiv auf alle Kinder aus. Es ist eine tolle Klasse, in der alle gut aufgenommen wurden. Ich denke nicht, dass die stärkeren Kinder nennenswerte Einschränkungen durch diese Rahmenbedingungen hinnehmen müssen. Oder dass zu wenig auf sie geachtet wird. Die Kinder helfen sich auch viel gegenseitig, sie nehmen diese Unterschiede gar nicht so deutlich wahr. Auch die Elternschaft bildet übrigens eine sehr gute Gemeinschaft.
 
VALACHOVIC: Hinsichtlich der reinen Lernfortschritte wäre für die inklusiv beschulten Kinder unter den derzeitigen Bedingungen das SBBZ die bessere Adresse. Unter dem Aspekt der sozialen Entwicklung spricht aber vieles für solch eine gemischte Grundschulklasse. Was wir bräuchten, ist eine bessere Ausstattung, um gemeinsam zu lernen.

BATRAM: Und: Wenn Inklusion umgesetzt werden soll, müssten die Lehrkräfte künftig bereits im Studium darauf vorbereitet werden.

Wie wurden Sie inklusiv geschult?
BATRAM: Meine fachliche Vorbereitung beschränkt sich  auf drei Hospitationstage an einem SBBZ. Mehr war im Rahmen meines Studiums und während des Referendariats nicht vorgesehen.

Kann Inklusion in weiterführenden Schulen funktionieren, etwa auch auf dem Gymnasium?
SCHUBERT: Es gibt ja die Gemeinschaftsschulen, wo Differenzierung und Vielfalt schon heute groß sind. Dort werden bereits inklusive Settings angeboten. Das wäre sicher eine Option. Aber das muss individuell entschieden werden.
VALACHOVIC: In ganz Baden-Württemberg werden 21 Schüler an Gymnasien inklusiv beschult. Die Aufgabe wird fast komplett an die Gemeinschaftsschulen abgegeben. Die Albert-Schweitzer-Schule hat einen hohen Anteil an Schülern, die einen Anspruch auf inklusive Beschulung haben.  Wenn diese Herausforderung von einer einzigen Schulart bewältigt werden soll, kann weder das Problem gelöst, noch die Entwicklung der Gemeinschaftsschule angemessen funktionieren.

Ist das ein Argument dafür, ein Kind mit dem Anrecht auf inklusive Beschulung künftig in einer G8-Klasse am Hans-Thoma- oder am Hebel Gymnasium zu unterrichten?
VALACHOVIC: Das ist es nicht. Aber zunächst braucht es an allen Schularten wenigstens die Haltung, auch inklusiv unterrichten zu wollen. Welche Kinder letztlich sinnvoller Weise welche Schule besuchen, muss man genau anschauen und dann entscheiden. Es fehlt gewiss Personal für die Umsetzung, aber auch die Bereitschaft.

SCHUBERT: Die Verantwortung liegt bei allen Schulen. Aktuell findet die inklusive Beschulung fast nur an den Gemeinschafts- und Werkrealschulen statt.

Was müsste sich in Ihrem Alltag ganz konkret ändern, damit Inklusion besser gelingen kann?
BATRAM: Ganz klar: Frau Schubert müsste mehr Zeit in der Klasse verbringen. Und wir brauchen Kooperationszeiten – Zeit, die wir uns jetzt zusätzlich nehmen, am Freitagnachmittag oder am Wochenende. Und: eine bessere Vorbereitung auf diese Aufgabe schon im Studium sowie Fortbildungen im Beruf.

VALACHOVIC: Ich kann das nur bekräftigen: In einer inklusiven Klasse muss das Zwei-Pädagogen-Prinzip gelten – mit Grundschul- und sonderpädagogischer Ausbildung. Die Lehrer müssen auf diese neuen Aufgaben vorbereitet werden: auch für Kinder in den nicht inklusiven Klassen, die ebenfalls eine sonderpädagogische Betreuung benötigen.

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