Lörrach Kinder brauchen Geheimnisse

Die Oberbadische
Foto: Gabriele Hauger Foto: Die Oberbadische

Interview: Ulrike Schlegel über den Genuss des Philosophierens / Workshop auf der Kinderbuchmesse

Rätsel entschlüsseln und Geheimnisse hüten: Darum geht es am Wochenende bei der 28. Kinderbuchmesse Lörracher Leselust im Burghof. Dabei wird auch über Geheimnisse philosophiert. Dazu findet am Samstag von 16 bis 18 Uhr ein Workshop für Kinder zwischen acht und zwölf Jahren statt. Eine der Leiterinnen ist die Pädagogin Ulrike Schlegel, die auch zu den Gründerinnen des Vereins Philo-Mobil gehört, der Kinder und Jugendliche zur Meinungsbildung befähigen will. Gabriele Hauger unterhielt sich im Vorfeld der Kinderbuchmesse mit ihr über die Faszination von Geheimnissen.

Frage: Brauchen Kinder Geheimnisse? Und wenn ja, warum?

Ich bin absolut überzeugt, dass Kinder Geheimnisse brauchen – wie im übrigen alle Menschen. Kinder behalten ab etwa vier Jahren etwas für sich. Ab da bedeuten ihnen Geheimnisse etwas. Das hat etwas mit Selbstabgrenzung gegenüber den Eltern oder auch den Geschwistern zu tun. Es ist sozusagen ein Baustein der Identität. Kinder brauchen Freiräume, in denen sie sich vor der Kontrolle der Erwachsenen sicher und unabhängig fühlen. Bei Geheimnissen geht es also um Privatheit und persönliche Freiräume, die man sich Schritt für Schritt erarbeitet und die immer zentraler werden.

Die andere wichtige Aufgabe von Geheimnissen ist mehr nach innen gerichtet. Geheimnisse sind sozialer Kitt. In Freundschaften und Beziehungen spielen sie eine große und wichtige Rolle. Wenn man ein Geheimnis teilt und sich Verschwiegenheit wünscht, verspricht und auch einhält, dann verstärkt das die Freundschaft.

Frage: Im Vorfeld der Kinderbuchmesse gab es bei der Leselust in der Stadtbibliothek bereits eine Philosophierunde rund ums Geheimnis. Wie lief das?

Das war sehr anregend und erkenntnisreich. Es zeigte sich zum Beispiel, dass für Kinder ein Geheimnis oft mit einem Versteck verbunden ist, einem geheimen Ort, wo man sich trifft oder Süßigkeiten sammelt.

Frage: Verstehen Kinder den Unterschied zwischen Geheimnis und Lüge?

Wir vermitteln beim Philosophieren keine Kategorien, haben keine pädagogische Botschaft. Wir moderieren das Gespräch, steigen mit einem praktischen Beispiel, einer philosophischen Frage ein. Wenn Kinder dabei auf den Zusammenhang zur Lüge kommen, dann können wir das natürlich nachfragend vertiefen.

Frage: Sind Sie erstaunt über die Beiträge der Kinder? Haben sich die mit den Jahren verändert?

Verändert hat sich die starke Präsenz des Themas Mobbing. Staunen muss ich aber tatsächlich immer wieder. So hatte Franziska Kufner in einer kürzlichen Philosophierunde jeweils ein Foto von einem Jungen und einem Mädchen aufgehängt. Die Kinder sollten dann aufschreiben, welche möglichen Geheimnisse das Kind haben könnte. Da tauchten spannende Ideen auf. Das reichte von Vermutungen über ein geheimes Versteck, übers Verliebtsein, heimliches Abhauen bis hin zur Theorie, dass der Junge Rosa als Lieblingsfarbe haben könnte. Man merkt, dass da eine Menge aktueller Zeitfragen hineinspielen, die die Kinder offenbar beschäftigen. Es werden Peinlichkeiten angesprochen, Besonderheiten, Ängste – letztere übrigens oft bei Jungs. Ich staune über die Vielfalt, an die Kinder bei Geheimnissen denken. Gemeinsam ist allen: Sie haben ein Geheimnis. Und allen Kindern war bewusst, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt.

Frage: Was sind aus Kindersicht schlechte Geheimnisse?

Da ist zum einen Mobbing. Oder, dass man geschlagen wird. Oder, dass man etwas kaputt gemacht hat, es aber nicht zugegeben hat.

Frage: Können Kinder automatisch einordnen, welchen Stellenwert Geheimnisse haben, oder ist das über die Erziehung definiert?

Ich denke, sie spüren die Angst, wenn sie mit einem schlechten Geheimnis konfrontiert werden, und entwickeln Schuldgefühle. Das entsteht natürlich durch die Erziehung, aber auch durch die Beziehungen der Kinder untereinander, die sich darüber austauschen.

Frage: Stichwort Handy. Ein Ort vieler Geheimnisse, die aber auch leicht öffentlich werden können. Ist das auch Thema?

Bei Jugendlichen auf jeden Fall. Da geht es um Klassenchats, bei denen es den Jugendlichen doch sehr bewusst ist, was für eine Gratwanderung das ist. Und dass das schnell in Mobbing ausarten kann. Jugendliche haben durchaus ein Bewusstsein dafür oder auch bittere Erfahrungen damit, was sie in ihr Profil schreiben, was sie posten, welche Fotos sie freigeben – und was nicht. Kindern und Jugendlichen ist zudem klar, dass manchmal Erwachsene eingreifen müssen, wenn hier Grenzen überschritten werden.

Frage: Mit Mirja Blanchard werden Sie jetzt am Samstag bei der Kinderbuchmesse philosophieren. Wie sieht das aus?

Wie gehen von einer Frage aus, die wir uns gründlich im Vorfeld überlegen. Es muss eine freie Fragestellung sein, die eine einfach ja/nein-Antwort nicht ermöglicht. Eine Frage, die zum Denken anregt, über die sich Kinder gerne austauschen möchten. Zum Beispiel: Ist es gut, ein Geheimnis zu haben? Oder: Können wir ohne Geheimnisse leben? Darf man ein Geheimnis verraten? Dabei sind wir ganz offen und können nie voraussehen, wie so ein Gespräch läuft. Wir setzen Impulse, greifen verschiedene Fragen noch mal auf und vertiefen sie, bringen neue Aspekte ein. Wir lassen die Kinder reden. Nach einer guten halben Stunde können sie dann kreativ werden und zum Beispiel das Verbergen oder Aufdecken von Geheimnissen szenisch spielen. Oder sie machen eine gemalte Gedankenreise, basteln eine Geheim-Box oder suchen Gegenstände.

Frage: Wahrscheinlich kommt eher eine Akademikerkinder-Klientel zu solchen Workshops. Wäre es nicht toll, alle zu erreichen?

Ich möchte am liebsten eine Mischung. Alle Kinder können dabei lernen, dass sie frei debattieren, denken, sich eine eigene Meinung bilden, wenn sie später vielleicht selbst Lehrer oder Erzieher werden. Wir versuchen sehr, auch Kinder einzubeziehen, die solche Debatten und Förderung aus dem Elternhaus nicht so kennen. Die erreichen wir am besten, wenn Lehrer die Kinder ansprechen.

Frage: Solche Workshops fördern ja nicht nur die Gedanken, sondern auch deren Verbalisierung.

Ja. Sie fördern enorm die Fähigkeit zu argumentieren, aber auch zuzuhören. In Rückmeldungen bestätigen die Kinder immer wieder, wie interessant sie es fanden, was die anderen gesagt haben. Oder sie sagen, sie möchten Zuhause noch mal weiter darüber nachdenken.

Frage: Kulturpessimisten bescheinigen den Kindern von heute abgestumpftes Medien-Konsumverhalten statt geistige Kreativität. Wie sehen Sie das?

Ich erlebe ungeheuer kreative, fantasievolle Kinder. Die viel nachdenken und auch fähig sind, das auszudrücken. Ich bemerke zudem überhaupt keinen Rückgang an Fantasie. Vielleicht kennen die Kids nicht mehr so viele Märchen wie früher. Dafür kennen sie andere Dinge, Figuren aus Online-Spielen, die mir vielleicht unbekannt sind.

Frage: Ist der Philosophie Workshop für alle Kinder geeignet?

Ja. Ich wüsste keinen Ausschlussgrund, warum ein Kind nicht dafür geeignet wäre. Alle sind interessiert am Nachdenken. Wem nicht gegeben ist, ausführlich zu argumentieren, der kann zuhören. Das ist eine Rolle, die wir genauso schätzen.

Frage: Stellen Sie einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen fest?

Nein. Anfangs kamen hauptsächlich Mädchen. Jetzt ist es halbe halbe.

Frage: Wenn ein Kind beim Workshop Appetit aufs Philosophieren bekommen hat, kann es zum Philo-Mobil kommen?

Ja: einmal im Monat samstags finden in der Stadtbibliothek Philo-Runden für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren statt. Auf der Homepage finden sich Termine und Themen unter philo-mobil.com. Kinder können sich auch beim Philo-Camp im Werkraum Schöpflin in den Sommer- und Herbstferien anmelden. Und Jugendliche können einmal pro Monat zum Philosophieren ins Schülercafé Kamel-ion kommen.

Frage: Ist Philosophieren also keineswegs verstaubt?

Oh nein! Es ist ein Genuss, ohne Zeitdruck Gedanken auszutauschen – gerade auch für Erwachsene. Ich habe das Gefühl, dass philosophische Treffs sich zunehmender Beliebtheit erfreuen, sicher auch angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit. Philosophieren gewinnt an Bedeutung. In einigen Bundesländern gibt es Bestrebungen, Philosophieren an Grundschulen als Fach einzurichten. Im Erwachsenenbereich haben Philosophen wie Richard David Precht großen Erfolg. Der Bedarf, über Themen zu philosophieren steigt also.

  Weitere Informationen: www.philo-mobil.com www.burghof.com

Workshop auf der Kinderbuchmesse: 23.11., 16 bis 18 Uhr, mit Ulrike Schlegel und Mirja Blanchard; für max. 12 Kinder (Alter: 8 bis 12 Jahre); die Teilnahme ist kostenlos

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