Lörrach „Kunst ist systemrelevant!“

Thorsten Hengst
Götz Widmann: „Ich empfinde es als Armutszeugnis, dass wir bei so einer Krise so eine geistige Kleinstaaterei in Deutschland und Europa ausgepackt haben.“ Foto: Pauline Strassberger/zVg

Interview: Liedermacher Götz Widmann kommt am Freitag ins Nellie Nashorn

Kurz vor dem Corona-Lockdown hatte Götz Widmann sein neues Album „Tohuwabohu“ veröffentlicht und schon die erste Tour erfolgreich absolviert. So wurde aus dem Urlaub für den Liedermacher eine mehrmonatige Zwangspause in seinem Berliner Home-Office. Seit den Sommermonaten ist der Unterfranke wieder unterwegs und freut sich über jeden Moment auf der Bühne, wie er im Interview mit Thorsten Hengst verriet. Am Freitag kommt Widmann ins Nellie Nashorn.

Herr Widmann, wie und wo hat Sie der bundesweite Corona-Lockdown „erwischt“?

Ich war gerade im Urlaub, als das mit dem Corona-Virus so richtig losging. Ich hatte das unverschämte Glück, dass das letzte Konzert meiner ersten Tour schon im Februar war. Ich habe aber auch so ziemlich schnell begriffen, dass da etwas unterwegs ist, das unsere Welt total verändern könnte.

Inwiefern?

Insofern, dass wir Unterhaltungskünstler neben dem Tourismus wohl am meisten von den Corona-Beschränkungen betroffen sind. Von heute auf morgen ist dein Beruf auf einmal ein kollektives Gesundheitsrisiko. Das fühlt sich sehr komisch an...

Machen Sie sich Sorgen über Ihre Zukunft?

Ja, denn hier brechen gerade jede Menge Existenzen von großartigen Leuten weg, die unsere Gesellschaft braucht. Kunst ist systemrelevant! Das ist zumindest meine Meinung. Am meisten Sorgen mache ich mir dabei um die Clubs. Das sind sehr oft Projekte von Idealisten, die keine nennenswerten Rücklagen haben. Ich bin kein Freund von subventionierter Kunst, aber wenn für unsere Spielstätten nicht mehr getan wird, werden viele davon in den nächsten Monaten jämmerlich verrecken. Und dann kommen auch für uns freiberufliche Künstler definitiv härtere Zeiten...

Wie bewerten Sie die staatlichen Hilfen für Kulturschaffende?

Erst einmal haben sich alle sehr darüber gefreut, und es hat den Leuten in einer schweren Zeit ein wenig Hoffnung gegeben. Dann sprach sich aber unter uns Künstlern herum, dass wir das Geld am Ende vielleicht wieder zurückzahlen müssen. Ganz schlimm finde ich es auch, dass es in jedem Bundesland anders ist. Wie ineffizient und unfair ist das denn!?

Wieso?

Ich empfinde es als Armutszeugnis, dass wir bei so einer Krise so eine geistige Kleinstaaterei in Deutschland und Europa ausgepackt haben. Es wäre doch der ideale Moment gewesen, endlich einmal als Europäer – ja, sogar als Weltbürger – zu denken und zu handeln. Auch gesundheitlich und ökonomisch wäre das viel sinnvoller...

Apropos „Europa“: So heißt auch das erste Lied auf Ihrem neuen Album „Tohuwabohu“ – ist das ein Plädoyer für ein noch grenzenloseres Europa?

Ja, das fände ich die einzig richtige Richtung. Ich träume seit meiner Jugend von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Ich bin jetzt Mitte 50 und habe noch nie einen Krieg erlebt. Das verdanken wir vor allem der europäischen Integration. Ich bin nicht mit allem einverstanden, denn leider regieren in der EU zu sehr das Geld und die Interessen der Großkonzerne. Trotzdem ist die europäische Vereinigung eine fantastische Idee. Ich würde keine Sekunde zögern, meinen deutschen Reisepass gegen einen EU-Pass zu tauschen.

Das neue Album endet mit dem Song „Klimakatastrophe“. Wird Ihrer Meinung nach genug gegen den Klimawandel getan?

Nein, wenn wir diese Welt noch retten wollen, müssen wir langsam mal den Hintern hoch kriegen. Wir sind wie jemand, der vom Hochhaus gesprungen ist und im dritten Stock meint, dass bis jetzt doch alles erstaunlich gut gegangen ist. Der Spruch ist zwar nicht von mir, aber er stimmt hier einfach.

Lassen sich Ihrer Meinung nach aus den gegenwärtigen Krisen auch Chancen auf eine bessere Zukunft ableiten?

Ein paar Chancen gibt es immer: Der Himmel über Berlin war während des Lockdowns manchmal so blau, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Aber ich glaube, dass eine Regierung, die eine konsequente Klimapolitk betreibt, bei der nächsten Wahl wieder abgewählt würde, weil irgendwelche Demagogen den Menschen Lügen erzählen werden, um so an die Macht zu kommen.

Was dürfen Ihre Fans beim Konzert von Ihnen erwarten?

Ich habe durch die Zwangspause meine Auftritte ganz neu schätzen gelernt. Sicher, ich wusste schon immer, dass ich das liebe. Aber dass es mir so sehr fehlen würde, wenn auf einmal gar nichts mehr geht, hätte ich nicht erwartet.

Ich bin gerade so dankbar für jeden Moment auf der Bühne, und ich liebe meinen Job wie schon ewig nicht mehr. Die Leute freuen sich auch so, dass es wieder Live-Musik gibt. Da liegt eine besondere Stimmung und gegenseitige Wertschätzung in der Luft, die schwer zu beschreiben ist.

Weitere Informationen: Nellie Nashorn, Freitag, 9. Oktober, 20 Uhr. Der Eintritt ist frei, Platzkarten müssen aber vorab verbindlich reserviert werden per E-Mail an tickets@nellie-nashorn.de. oder Tel. 07621/570 92 10

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