Das Stimmenfestival wird 25 Jahre alt – eine gute Gelegenheit für einen Rückblick: In unserer Serie widmen wir  jedem Stimmen-Jahrgang  eine Seite. Die Folgen erscheinen bis zum Ende des diesjährigen Festivals in regelmäßigen Abständen. Heute beschreibt Veronika Zettler, wie Lörrach 1996 ein Stück Provinzialität abgelegt hat.

Von Veronika Zettler
Lörrach. Zack! Oliver Bierhoff schießt in der Verlängerung des Endspiels gegen Tschechien das erste Golden Goal der Geschichte und Deutschland wird zum dritten Mal Europameister. Die Stimmung ist glänzend im Sommer 1996. Erst recht in Lörrach, wo das Fußballfieber nahtlos von einem anderen abgelöst wird. Im Jahr drei der Stimmen-Geschichte sind die Lörracher heillos „vom Festivalvirus infiziert“, diagnostiziert unsere Zeitung damals. Noch hat sich „Stimmen“ zwar nicht als Marke etabliert, noch wird an der Struktur gefeilt und am Format geschliffen, aber das Festival strahlt bereits in die ganze Region aus, wie dem Bericht zu entnehmen ist.

Stimmen sei „eine Idee, die mitten ins Herz der Stadt getroffen hat“, bescheinigt im Vorfeld der dritten Auflage die damalige Oberbürgermeisterin Gudrun Heute-Bluhm dem Stimmen-Erfinder und Kulturreferenten Helmut Bürgel. Es geht, das ist in den Anfangsjahren spürbar, nicht nur um ein paar zugkräftige Namen in der kulturell bis dato eher verschlafenen Stadt. Vielmehr geht es um Stadtentwicklung, Flair und Strahlkraft, um ein neues Image und Selbstgefühl. Ein Kommentar unserer Zeitung attestiert: Mit Stimmen sei in der Lerchenstadt der „kulturelle Urknall“ erfolgt. Damit, so heißt es weiter, werde „ein weiteres Stück Provinzialität, zumindest im Sommer, Vergangenheit“.

Zumal der Stapellauf eines zweiten, ähnlich imposanten kulturellen Flaggschiffs bevorsteht. Im Juli 1996 debattiert der Gemeinderat über den künftigen Namen das geplanten Neubaus entlang der Weinbrennerstraße, der damals noch unter Begriffen wie „neue Stadthalle“ oder „Bürgerhaus“ firmiert. Den Vorschlag „Burghof“ findet die CDU-Fraktion nicht gut.
Das „interessanteste Festival Deutschlands“

 „Welch gewaltige Stimme zum Stimmen-Auftrakt“. Der Rezensent unserer Zeitung ist hingerissen vom Eröffnungsabend mit der libanesischen Ordensschwester Marie Keyrouz. „Dass ein Konzert mit einem derartigen Nischenrepertoire auf so enorme Resonanz stößt, ist die erste Sensation des Lörracher Festivals“, notiert er. Fast 500 Zuhörer in der bis auf den letzten Platz besetzten Kirche St. Fridolin sind von den archaischen liturgischen Gesängen aus frühchristlicher Zeit „teilweise zu Tränen“ gerührt, wie in einer weiteren Besprechung unserer Zeitung zu lesen ist.

Auch die Fernsehsendung „Kultur Südwest“ berichtet über den Auftritt und bewertet „Stimmen“ abschließend als „interessantestes Festival Deutschlands“.
Mit 16 Konzerten fällt die dritte Ausgabe umfangreicher aus als im Jahr zuvor. Helmut Bürgel freut sich über die wachsende Resonanz aus der Schweiz: „Da haben wir in diesem Jahr regelrecht den Durchbruch geschafft“, sagt er. Ein Wermutstropfen: „In Frankreich werden wir nur am Rande wahrgenommen“.

Auf dem Marktplatz locken große Namen unterschiedliche Musikgeschmäcker: 2000 Besucher innerhalb der Absperrung und weitere 2000 außerhalb werden an jenem heißen Sommerabend beim Doppelkonzert von Dianne Reeves und Cassandra Wilson gezählt.

Ein unvergessliches Konzerterlebnis beschert der italienische Cantautore Paolo Conte knapp 3000 Zuhörern. Im schwarzen Anzug hockt er am Klavier und intoniert mit seiner herzbrecherischen Reibeisen-Stimme einen seiner größten Hits: „It’s wonderful“. Damit singt er dem Publikum aus der Seele. Bella Italia schwappt mit voller Wucht über den Marktplatz.

Randnotiz: Der Schweizer Rocksänger Cyrano, der als Support dabei ist, betritt „als erster Stimmen-Künstler den Laufsteg hin zum umstrittenen Rückriem-Stein“. Angélique Kidjo tut es ihm wenig später vor 1800 Zuschauern gleich.

Gleich zwei Stimmen-Konzerte an einem Abend: Der Lörracher Motettenchor in der Kirche St. Peter und Al Jarreau vor knapp 3000 Besuchern auf dem Marktplatz. Allerdings hört man letzteren, technischer Probleme wegen, so gut wie überhaupt nicht, wie unser Konzertkritiker vermerkt. „Eine realistische Beurteilung der musikalischen Darbietung Al Jarreaus bleibt demzufolge Spekulation“, heißt es charmant.

Pannen gibt es auch bei den Fantastischen Vier. Diesmal bringen sie ihre Fans nicht so recht auf Touren, stellt die Rezensentin fest. Technik-Tohuwabohu beschert den Besuchern zunächst eine fast einstündige Wartezeit und die Ordner müssen „die vor Durst völlig erschöpften Fans erst mal mit Wasser versorgen“. Smudo entschuldigt sich gegen Ende des durchwachsenen Auftritts: „Wir sind halt nicht mehr die Jüngsten“, meint er. Und das vor 22 Jahren.
 Mullah-Regierung  will Auftritt im Rosenfelspark verhindern

 Ebenfalls auf dem Marktplatz gibt es ein gemeinsames Konzert von Chor 72 und Chorgemeinschaft 75. Zudem tritt ein Mann auf, der das Festival noch in späteren Jahren mehrfach bereichern wird: Bobby McFerrin gibt vor 1200 Zuhörern „ein ganz großes, ein ganz besonderes Konzert“. Jovanotti begrüßt hingegen 2000 Zuhörer: „Ciao Ragazzi. Es ist ein wundervoller Tag heute und mein Herz ist voller Freude“.

Plötzlich schlagen die Wellen hoch. Die iranische Mullah-Regierung will den Auftritt der seit 1994 im Pariser Exil lebenden iranischen Sängerin Marzieh im Rosenfelspark verhindern. Sie sei eine „Symbolfigur des Widerstands und Mitglied einer terroristischen Vereinigung“. Mit dieser Ansage ist der Hinweis verknüpft, dass die ebenfalls eingeladenen iranischen Künstler Sharam Nazeri und Hossein Alizadeh einer Ausreisegenehmigung der iranischen Behörden bedürfen. In Lörrach bleibt man standhaft - und erobert damit viele Herzen. Das Konzert von Nazeri und Alizadeh fällt ins Wasser, aber Marzieh, die „persische Nachtigall“, singt.

„Stimmen aller Stilrichtungen und Kulturen auf die Bühne zu holen“, skizziert Helmut Bürgel 1996 in einem Interview seine Vision. In den folgenden Jahre zaubern diese Stimmen vor allem im Rosenfelspark eine einmalige Atmosphäre. Auch 1996. Im Park beschließen das Festival unter anderem die Konzerte des Oberton-Ensembles Huun-Huur-Tu aus Tuwa und der Sängerin Dimi Mint Abba aus Mauretanien.

Das Wetterglück verlässt die Konzertreihe erst beim Finale. Laut Bericht schüttet es bei der italienischen Nacht „wie aus Eimern“. Nessun Problema. Kurzerhand verlegen die Macher das Konzert ins benachbarte Hebelgymnasium.

Die Autorin:
Veronika Zettler ist freie Journalistin und berichtet für unsere Zeitung seit vielen Jahren über das Stimmenfestival. Für die Jubiläumsserie hat sie alte Zeitungsbände gewälzt, um die Höhepunkte der jeweiligen Jahrgänge herauszufiltern.