Lörrach Von Fabriklern und Dörflern

Hubert Bernnat

Stadtgeschichte: Folge IV unserer Serie: 1908: Vereinigung Stettens mit Lörrach / Auf freiwilliger Basis geschehen

Nachdem der Stettener Bürgerausschuss am 4. Juni 1904 die Angliederung nach Lörrach befürwortete, heißt es in einem Schreiben an die Stadt Lörrach: „Wir bringen Ihnen einen Gemarkungszuwachs von 461 ha und 174 ha Gemeindewald mit, bei nur 15 000 Mark Schulden nach Abzug des Anlagekapitals für die sehr rentable Wasserversorgung.“

Von Hubert Bernnat

Lörrach. Weiter heißt es in dem Schreiben: „Wir sagen das nur zu Ihrer Orientierung, da wir mit einer Hervorkehrung der materiellen Gegenleistung unseres verhältnismäßig geringen Steuerkapitals schlecht abschneiden würden, obwohl es Ihnen bekannt sein dürfte, daß die relative Ungleichheit der Steuerkapitalien in der Hauptsache daher rührt, daß bei der Verteilung von Licht und Schatten Lörrach die Fabriken und Fabrikanten, Stetten dagegen die Fabrikarbeiter erhalten hat.“

Damit war Stettens Problem klar benannt. Der Ort hatte um diese Zeit mit fast 4000 seine Einwohnerzahl seit 1850 vervierfacht. Zugezogen waren in der Mehrzahl Arbeiter, „Fabrikler“, die vor allem bei der KBC (Manufaktur Koechlin, Baumgartner & Cie) arbeiteten. Nur zwei größere Firmen lagen auf Stettener Gemarkung, die Gießerei Währer und die Nähseidenfabrik Engisch mit zusammen rund 180 Arbeitskräften. Ansonsten war Stetten ein Bauerndorf mit einigen Handwerkern, zwei Mühlen und fünf Wirtschaften. Haupteinnahmequelle der Gemeinden war aber die Gewerbesteuer, einen Finanzausgleich gab es noch nicht. Für die stark angewachsene Bevölkerung musste die erforderliche Infrastruktur bereitgestellt werden: Ausbau von Straßen, Gasbeleuchtung, Wasserversorgung, Kanalisation und Schule. Vor allem die Schule platzte aus allen Nähten.

Arbeiterkolonie Neustetten

Verursacher der Stettener Notlage war eigentlich die KBC, deren Areal im Süden an Stetten grenzte. Unter Direktor Imbach sollten Arbeiterwohnungen in Fabriknähe für die zu dieser Zeit über 500 Beschäftigten gebaut werden. Da die Wiese noch nicht vollständig reguliert war, suchte man ein Baugebiet auf dem Hochgestade. In Lörrach war kein geeignetes zu finden, so wich man auf Stetten aus, direkt hinter der Gemarkungsgrenze. Zwischen Basler Straße und Gewerbekanal entstanden ab 1854 die ersten 44 Wohneinheiten. Diese sind als zweistöckige Reihenhäuser und beidseitig bewohnbar gebaut. Dazu gehört jeweils ein kleiner Vorgarten zur Selbstversorgung. Am Kanal wurde gleichzeitig ein Waschhaus errichtet. Diese Arbeiterwohnungen orientierten sich an Beispielen in Basel und Mülhausen.

1862 erfolgte parallel zur Basler Straße der Bau der Eisenbahnlinie von Basel bis Schopfheim mit eigenem Stettener Bahnhof. Zwischen 1867 und 1873 intensivierte die KBC ihren Wohnungsbau mit 96 weiteren Einheiten, nun auf der östlichen Seite der Bahnlinie. Mit den schon bestehenden Wohnungen entstand so die „Arbeiterkolonie Neustetten“. Diese lag gut 500 Meter unbebaute Luftlinie vom alten Stettener Dorfkern entfernt, der Marktplatz in Lörrach lag näher. Schon 1864 hatte Oberamtmann von Preen die neue Siedlung als „Vorstadt Lörrachs“ bezeichnet. Um 1870, als die KBC schon mehr als 1000 Beschäftigte hatte, wohnten hier mehrere 100 Menschen. Neustetten hatte eigene Geschäfte und den Arbeiterkonsumverein in der neu gebauten Schillerstraße, damals Imbachweg.

Angliederung Neustettens an Lörrach diskutiert

Stettens Bürgermeister Rupp schrieb 1890: „Der größere Teil der hiesigen Einwohner besteht aus Fabrikarbeitern, welche infolge der Erbauung die bürgerlichen Einwohner, meist Landwirte, überflügelt haben. Es ist unter denselben eine große Neigung, sich mit der Stadt Lörrach zu vereinigen.“ Von Stettener Seite gab es schon früh die Bereitschaft, die Arbeiterkolonie Neustetten an Lörrach abzugeben, zumal ein Großteil der Arbeiter evangelisch war und ihr Steueranteil nur gerade 25 Prozent vom Gesamtort ausmachte. Versuche in den Jahren 1864 und 1869 scheiterten am mangelnden Interesse Lörrachs, das an der Übernehme mehr Kosten als Nutzen auf sich zukommen sah.

Schulsituation drängte

Die Schulsituation war in Stetten das drängendste Problem. Man hatte nur ein altes Schulhaus hinter dem Rathaus mit nur einem Klassenraum und desolater Lehrerwohnung. 1872 entschloss sich die Gemeinde zum Neubau, der fünf Jahre später bezogen wurde. Es ist das alte Schulhaus an der Hauptstraße, das vier Schulräume für die achtklassige Volksschule hatte. Erleichtert wurde die Planung, da in Baden 1876 die verpflichtende überkonfessionelle Schule eingeführt wurde. Bis dahin gingen die katholischen Kinder aus Lörrach und Umgebung in die Stettener Schule, die evangelischen Kinder aus Neustetten aber nach Lörrach. Doch der Neubau war für die wachsende Schülerzahl bald zu klein.

Da nun ab 1870 zusehends die Basler Straße als auch die Dorfstraße bis zum Bahnhof bebaut wurden, musste in die Wasserversorgung durch neue Brunnen enorm investiert werden. Mathilde Baumgartner, die Frau von Leon Baumgartner von KBC, erwies sich als große Stifterin. Sie gründete das erste Kinderheim für „arme Kinder und Waisen“ an der Basler Straße, heute ist hier der Kindergarten „Zum Guten Hirten“ untergebracht. Um das Heim an die Wasserleitung anzuschließen, übernahm sie die Kosten für die Weiterführung der Lörracher Wasserleitung bis zum Gasthaus „Rössle“. So konnte die Basler Straße mit Hausanschlüssen ausgestattet werden. 1888 einigten sich beide Gemeinden vertraglich über die laufenden Kosten. Dennoch blieb bis 1890 die Frage der Angliederung Neustettens in der Schwebe. Dann verbot die badische Regierung gesetzlich die Ausgliederung von einzelnen Teilen bestehender Gemeinden. Doch im Stettener Bürgerausschuss häuften sich die Konflikte zwischen Neu- und Altstettenern, zwischen „Fabriklern und Dörflern“.

Die Vereinigung von Lörrach und Stetten

Unter dem Lörracher Bürgermeister Johann Josef Grether bestand lange wenig Interesse an einer Vereinigung. Er war der letzte Honoratiorenbürgermeister, der sein Amt seit 1872 noch nebenberuflich ausübte. Trotz der großen Bevölkerungszunahme durch die Industrialisierung dachte man auf dem Lörracher Rathaus noch kleinstädtisch und war auf Sparsamkeit bedacht. Es fehlte der Weitblick, welchen Vorteil eine Vereinigung mit Stetten für die Stadtentwicklung hatte. Doch Stetten entwickelte sich weiter. 1882 war die Wiesekorrektur abgeschlossen, 1890 die Bahnlinie nach Weil durch den Tüllinger Tunnel fertig. Und 1897 beschloss Stetten, die Wasserversorgung mit Hausanschlüssen selbst zu übernehmen. Das überforderte die Gemeinde bald, denn ab 1903 begann die Bebauung der Damm-, Weiler und Riehenstraße.

Die geschilderten Probleme führten 1904 zum eingangs erwähnten Antrag an die Stadt Lörrach. Zwei Jahre wurde ergebnislos verhandelt. Dies änderte sich erst 1906, als eine Mehrheit aus Nationalliberalen, Zentrum und SPD im Lörracher Bürgerausschuss nach dem krankheitsbedingten Rücktritt Grethers den erst 27-jährigen Juristen Dr. Erwin Gugelmeier zum nun hauptamtlichen Bürgermeister wählte. Dieser sah die Entwicklungspotenziale für Lörrach, ebenso wie der Stettener Bürgermeister Fridolin Engel die eigene Misere realistisch einschätzte. So wurde eine Verhandlungskommission gebildet. Größtes Problem war die Abgeltung des so genannten Bürgernutzens auf Waldholz und der Matten auf dem Salzert, worauf einige alteingesessene Stettener ein Anrecht hatten.

Letztlich konnten alle diese Fragen einvernehmlich in einem Vertrag geklärt werden, dem die kommunalen Gremien in beiden Orten mit sehr großer Mehrheit zustimmten. Nachdem auch beide Kammern des badischen Landtags im März 1908 zustimmten, wurde die Vereinigung Stettens mit Lörrach zum 1. April 1908 gültig. Da auch Lörrach Schulraumprobleme hatte, ist der Bau der damaligen Städtischen Realschule mit Volksschule 1911, heute HTG, praktisch auf der alten gemeinsamen Gemarkungsgrenze, so etwas wie das Vereinigungsgeschenk, das beiden nützte. Jedenfalls ist die Vereinigung Stettens mit Lörrach die einzige, die auf freiwilliger Basis geschah. Bewahrt hat sich der Stadtteil seine eigene Identität.

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