Lörrach Wider das Wegsehen

Bernhard Konrad
 Foto: Kristoff Meller

Religion: Rabbiner Moshe Flomenmann über die Situation und Perspektiven jüdischen Lebens in Deutschland.

Lörrach - Die Israelitische Kultusgemeinde Lörrach ist fester Bestandteil der Stadtgesellschaft, betont Moshe Flomenmann. Gleichwohl machen sich der Landes-Rabbiner und zahlreiche Gemeindemitglieder zunehmend Sorgen über die Perspektiven jüdischen Lebens in Deutschland.

Sei es der versuchte Angriff auf eine Synagoge in Halle im vergangenen Jahr oder Ereignisse jüngeren Datums wie etwa das Attentat von Nizza, die mutmaßliche Messerattacke von Dresden und der Anschlag in Wien – die Taten deuteten immer auch auf ein Versäumnis hin: „Wir müssen unsere westlichen Werte entschlossener verteidigen, sonst stärken wir Extremismus – und zwar nicht nur an einem, sondern gleich an mehreren Rändern der Gesellschaft“, sagt Flomenmann im Gespräch mit unserer Zeitung.

Dabei sei ihm eine differenzierte Betrachtung der Dinge wichtig: So sei der Islam gewiss nicht grundsätzlich mit Islamismus gleichzusetzen. Und selbstverständlich seien nicht alle AfD-Wähler rechtsextrem, betont der Rabbiner.

Das Bedrohungspotenzial

Doch auch zuletzt sei der Täter in Wien einschlägig polizeibekannt gewesen und vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Kritiker islamistischer Entwicklungen sähen sich zunehmend Bedrohungen ausgesetzt – mitunter müssten sie regelmäßig ihren Wohnsitz wechseln –, religiöse Minderheiten wie etwa Jesiden müssten sich weiterhin fürchten.

Gleichzeitig könnten sich Personen, von denen bekanntermaßen ein terroristisches Bedrohungspotenzial ausgehe, oftmals frei bewegen, sagt Flomenmann: „Das ist kein Einzelfall – und das dürfte nicht sein.“ Gleichwohl sei dies „die bittere Realität“ und eine Ursache der genannten Vorfälle, die von der jüdischen Gemeinde in Lörrach „mit großer Bestürzung“ aufgenommen wurden. Bezeichnend sei: „Wir waren davon nicht überrascht. Im Gegenteil: Wir haben das erwartet.“

Die Polizeipräsenz

Mittlerweile sei die Israelitische Kultusgemeinde die Anwesenheit von Polizisten vor ihrer Synagoge gewohnt. Nach dem Terroranschlag in Wien soll die Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen in Baden-Württemberg abermals verstärkt werden. Schon jetzt stehe die Gemeinde in gutem und engem Kontakt mit der Lörracher Polizei.

Es gebe gewiss keine einfachen Antworten auf komplexe Problemlagen. Festzustellen sei aber, dass hierzulande vieles zwar „mit Sorge beobachtet“, aber schlicht zu wenig dagegen getan werde – gerade im Alltag, sagt Flomenmann. Auch aus dieser Passivität heraus resultierten etwa Vorfälle wie in Berlin, wo ein israelischer Bürger auf offener Straße mit einem Gürtel geschlagen wurde, oder dass etwa auf Schulhöfen immer wieder das als Schimpfwort gerufene „Du Jude!“ zu hören sei. Es gelte, nicht nur „Betroffenheit“ zu zeigen, sondern darüber nachzudenken, wie klare Signale aus der gesellschaftlichen Mitte ausgesandt werden könnten, dass so etwas nicht hingenommen werde.

Die Gedenk-Kultur

Flomenmann betont mit Blick auf den 9. November, dem Datum der gewalttätigen Novemberpogrome im Jahr 1938, die Bedeutung der Erinnerungskultur: „Erinnern ist die Voraussetzung für Versöhnen. Wir dürfen nicht gleichgültig werden.“ In diesem Jahr fallen Mahnwache und Gedenkfeier zum 9. November coronabedingt aus. Flomenmann und Oberbürgermeister Jörg Lutz werden deshalb Gedenkworte per Video aufnehmen, die am Montag, 9. November, um 17 Uhr über die Webseite der Stadt Lörrach veröffentlicht werden. Doch sei auch in diesem Zusammenhang entscheidend: „Erinnerungskultur darf sich nicht darauf beschränken, einfach nur ein Häkchen dranzumachen“, sagt der Rabbiner.

Die Stolpersteine

Unterdessen hat die Verlegung der Stolpersteine bei Flomenmann und der jüdischen Gemeinde „Irritationen“ ausgelöst. Wie berichtet, wurden die Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus kürzlich erstmals in Lörrach verlegt. Die kleinen Messingplatten wurden an den letzten selbst gewählten Lörracher Wohnsitzen der Menschen in den Gehweg eingelassen.

Im Prinzip habe die Gemeinde nach eingehender Debatte die Aktion mitgetragen. Mit Verwunderung habe sie aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass bei der Benennung der Opfer auf den Stolpersteinen unterschiedlich verfahren wurde, denn: In Lörrach werden auf den Stolpersteinen Opfer verschiedener Religionszugehörigkeit genannt. Deshalb wäre es aus Sicht der jüdischen Gemeinde wichtig gewesen, die Religionszugehörigkeit der einzelnen Opfer präzise zu benennen. Dies sei bei den jüdischen Bürgern nicht geschehen.

Nach Auskunft der Stadt liege diese Entscheidung allein beim Initiator der Stolpersteine, Gunter Demnig. Angesichts der Informationsfunktion der Stolpersteine im öffentlichen Raum könne die Kultusgemeinde mit dieser Ausgestaltung nicht zufrieden sein, so Flomenmann.

Die Aufarbeitung

Gleichzeitig würdigt er ausdrücklich das Engagement der Kommune für die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in Brombach, Haagen und Hauingen durch den Historiker Robert Neisen. Ebenso wichtig bleibe eine in die Zukunft gerichtete, lebendige gesellschaftliche Debatte, sagt Flomenmann. Im kommenden Jahr erwarte er am 9. März den Besuch von Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus. Gemeinsam mit Blume möchte Flomenmann die Begegnung mit Schülern organisieren – unter Berücksichtigung der Corona-Verordnung.

Das Gemeindeleben

Aktuell wurde das Gemeindeleben coronabedingt weitgehend zurückgefahren. Die Bibliothek ist geschlossen, Kurse, Tanzveranstaltungen, gemeinsamer Gesang, Jugendarbeit: All das findet derzeit nicht statt. Aber: Unter Einhaltung der Hygienevorschriften und deutlich eingeschränkter Besucherzahl wird – so lange es möglich ist – ein Gottesdienst angeboten. Allerdings würde schon bei kleinsten Anzeichen einer Coronainfektion auch dieses Angebot abgesagt, so der Rabbiner.

Bis auf Weiteres aber gehören die Gottesdienste noch zum Lörracher Gemeindeleben, denn, so Flomenmann: „Es ist den Menschen ein Bedürfnis.“

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