^ Lörracher Gastbeitrag: Was sagen, wenn einem die Worte fehlen? - Lörrach - Verlagshaus Jaumann

Lörracher Gastbeitrag Was sagen, wenn einem die Worte fehlen?

Jörg Müller
Youval (links) und Valérie (fünfte von links) auf dem Shuk in Yad HaShmona Foto: Jörg Müller

Gastbeitrag, Teil 3
: „Israel nach dem 7. Oktober 2023 – Jerusalem“

Da ich meinen Freund Youval telefonisch nicht erreiche, versuche ich ihn in Yad HaShmona auf dem Shuk anzutreffen. Tatsächlich verkauft er dort mit seiner Frau Valérie die Erzeugnisse seines organischen Bauernhofs und wir begrüßen uns fröhlich.

Jacob beim Jaffator in der Altstadt von Jerusalem Foto: Jörg Müller

Während ich mit Youval einen Tee trinke, nähert sich eine Gruppe angehender Rekruten, die sich auf ihren Wehrdienst vorbereitet. Etwa die Hälfte der Jugendlichen seien Araber. Ich spreche kurz mit Keshet, der Ausbilderin. Nein, niemand habe hier Angst, in den Krieg zu ziehen. Sie selbst war auch bis vor kurzem noch in einer kämpfenden Einheit.

Vertrauen ist schwieriger

Ich komme eine Stunde zu spät zu Tikvah und John. Unsere Kinder haben Bilder für sie gemalt, und ich erhalte von ihren beiden Zwillingen Geschenke, die ich mit nach Hause nehmen soll. Tikvah kenne ich bereits über zwei Jahrzehnte und wir haben uns oft gegenseitig besucht. Wir gehen spazieren. Im Jerusalemer Wald unterhalb von Yad VaShem laufen wir in Richtung Ein Kerem, dem vielleicht schönsten Vorort von Jerusalem.

Tikvah, John und Shaked vor Yad VaShem Foto: Jörg Müller

Auf dem Hügel vor der untergehenden Sonne liegt das Hadassa-Krankenhaus mit den Chagall-Fenstern. Ein wunderschöner Ausflug. Was hat sich für sie geändert, frage ich sie, als wir wieder im Wohnzimmer angekommen sind. Es sei die Tatsache, dass man Probleme habe, erneut zu vertrauen, lautet ihre Antwort. Jederzeit könne wieder ein Anschlag verübt werden.

Mit Liedern Hoffnung geben

Ich gehe durch das Jaffator in die Jerusalemer Altstadt. Jacob winkt mir zu. Er steht vor seinem geschlossenen Restaurant und verkauft Getränke. Jacob umarmt mich herzlich. Er habe bis vorgestern alles geschlossen gehabt. Nun habe er zumindest einen Getränkestand und eine Musikbox, über die er mit christlichen Liedern Hoffnung spenden möchte. Klar, wir befinden uns im christlichen Viertel von Jerusalem und die Christen dort sind alle Araber.

Udi in seinem Atelier im jüdischen Viertel Foto: Jörg Müller

Einkaufsstraße liegt brach

Der Palästinenser Zak hat nur eine Tür seines Antiquitätengeschäfts geöffnet und unterbricht sofort sein Gespräch, als er mich sieht. Er hat tatsächlich einen Kunden. Ein Russe mit Namen Wjatscheslaw. Dieser meint nur gleichgültig, es sei gerade überall Krieg. Israel habe Krieg, Russland habe Krieg und Deutschland sei ebenso mit ihnen im Krieg.

Über die Via Dolorosa im Muslimischen Viertel gelange ich zum Cardo, der sonst prächtigen Einkaufsstraße im Jüdischen Viertel. Nur das Atelier des Malers Udi ist offen und ich trete ein. Er kommt aus einem Nebenraum und ich sehe seinen verwunderten Gesichtsausdruck.

Anstatt uns wie sonst die Hand zu geben, umarmen wir uns zur Begrüßung herzlich. Udi bereitet mir sofort einen asiatischen Tee und ich frage ihn, wie er von den Ereignissen des 7. Oktober betroffen ist. Mit ruhiger Stimme berichtet er, dass vier ihm sehr nahe stehende Verwandte ermordet wurden. Zwei weitere Angehörige seien als Geiseln nach Gaza verschleppt worden. Zum Glück seien diese wieder freigekommen. Zudem habe man den Verlobten seiner Tochter Kedem getötet.

Jörg Müller an der Klagemauer Foto: Jörg Müller

Bibel als Mutmacher

Ich bin schockiert, da ich zwar Mailkontakt zu Udi hatte, er aber nichts davon erwähnte. Ich frage leise, wie er irgendwie weiterleben könne. Er holt ein Bild, das er gemalt hat, und gibt es mir wortlos. Darunter die Worte aus Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Ich kann kaum meine Tränen zurückhalten.

Gebet an der Klagemauer

Nach unserem Gespräch gehe ich direkt zur Klagemauer. Dort möchte ich selbst ein Gebet sprechen. Ich denke bei dem vielen Leid besonders an Kedem und ihr Schicksal, den Verlobten verloren zu haben. Aber was sagen, wenn einem die Worte fehlen?

Am Ende geht es mir ein wenig wie den Jüngern von Jesus, die ihn fragen, wie sie beten sollen. Mein Gebet beschränkt sich an diesem Tag an der Klagemauer auf den zentralen Teil des Vaterunsers: „Dein Wille geschehe.“

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